Es beginnt mit einer rasanten Kutschfahrt und einer gehörigen Bruchlandung. Untermalt vom beschwingten rossinischen Crescendo stürzen Pferde, Räder und Wagenteile, Koffer und Stiefeletten, Handtasche und Hut herab. Aber, wie im Comic so üblich, alles fügt sich wieder zusammen. So auch in der neuesten Kieler Inszenierung von Gioachino Rossinis „Die Reise nach Reims oder Das Hotel zur Goldenen Lilie“, die Comics mit realer Bühnenhandlung verbindet. Wegen des Aufwands für den Comicfilm kooperierte man mit dem Theater Lübeck und der Fondazione Arena di Verona.
Anlass für das Dramma giocoso war 1825 in Reims die pompöse Krönung des reaktionären und von der Julirevolution nach knapp sechs Jahren wieder hinweggefegten Bourbonen Charles X Philippe. Rossini, der sich selbst in Paris erst im Jahr zuvor niedergelassen hatte, sollte die festliche Gesellschaft in Paris belustigen, verfehlte allerdings dem Vernehmen nach zumindest beim König seinen Auftrag. Der gähnte.
Sehr verworren, die Handlung
Schwer zu prüfen, woran das lag. Was Rossini sich musikalisch hatte einfallen lassen, war geistreich, stilistisch variabel, fordert auch technisch die Sänger heraus, ist für Solisten, Ensembles und Chor Belcanto der schönsten Art. Alles ist zudem heute noch gut zu hören, wurde von Rossini auch geschätzt und anderweitig verwandt. Dennoch hat er sein Werk nicht ernst genommen. Das lag wohl vor allem an dem bizarren Stoff, der eines nicht hatte, eine nur irgendwie geartete stringente Handlung. Eine gemischte Gesellschaft strandet einen Tag vor den Feierlichkeiten im Hotel zur Goldenen Lilie, dessen Namen schon die Zuneigung zur französischen Monarchie verrät, und kommt so gar nicht erst ans Ziel. Die Herberge ist ein Badehotel und wird von Madame Cortese, einer Tirolerin, mit einem großen Mitarbeiterstab geführt, darunter Don Prudenzio als Badearzt sowie Maddalena, die Hausdame, und Antonio, der Hausmeister. Einige Gäste scheinen bereits vor Ort zu sein, als die Kutsche der modenärrischen Contessa di Folleville ihren Unfall erleidet und sie alles verliert.
Der Kummer der jungen, doch schon verwitweten Französin ist groß, bis sich wenigstens einer ihrer Hüte wieder anfindet. Den Hof macht ihr der elegante französische Cavaliere Belfiore. Doch auch um die anderen Damen bemüht er sich. Da ist Corinna, eine berühmte römische Sängerin, heimlich verehrt vom trinkfreudigen englischen Oberst Lord Sidney, und da ist die polnische Marchesa Melibea, lebens- und liebeslustige Witwe eines italienischen Generals. Letztere umwerben zusätzlich ungestüm und eifersüchtig der Conte di Libenskof, ein russischer General, sowie der temperamentvolle spanische Admiral Don Alvaro. Dann sind da noch der Italiener Don Profondo, Literat und Freund von Corinna, und der deutsche Major Barone di Trombonok, ein fanatischer Wagnerianer und Mitglied verschiedener Akademien, zudem besessener Sammler von Altertümern. Drei weitere Personen führen zu weiteren Verwirrungen, die junge griechische Waise Delia als Reisebegleiterin Corinnas, dann Modestina, die Zofe der Contessa, und Don Luigino, Cousin der Contessa di Folleville.
Doppelbödiges Konzept
Quer durch Europa reicht so das menschliche Sammelsurium, darin die Franzosen und Italiener deutlich bevorzugt. Das gibt allerlei Motive für Rivalitäten und banale Vorurteile, für karikierende Verhaltensweisen bis hin zu drastischen erotischen Vergnügungen und Anspielungen auf Brexit und Merkel, eine Fundgrube für Comicszenen. Ausflüge in die Mythologie werden unternommen, bei denen Jupiter Blitze schleudert, Amor wenig treffsicher Pfeile verschießt und Pan über Leinwand und Bühne stapft. Temporeich und gewitzt ist dieses Regiekonzept des Regisseurs Pier Francesco Maestrini und des Cartoonisten Joshua Held. Sie hatten schon für andere Opern Rossinis die Idee, verfilmte Comics mit realen Sängern zu verbinden. Vorbild mögen die mitreißenden Inszenierungen der Prager Laterna Magika gewesen sein.
Die Übersicht über die verflochtene Gesellschaft zu erhalten, ist nicht einfach. Die riesigen Figuren auf der Leinwand stehlen manchem Sänger die Schau, verlangen zudem, ähnlich slapstickartig zu agieren. Um die Solisten zu kennzeichnen, hat Alfredo Troisi, dritter Italiener im Regieteam, sie in teils groteske Kostüme gezwängt, die die jeweiligen Landesfarben nutzen und Länderklischees verstärken. Die andere Schicht, die übergroßen Angestellten, ist schwarz-weiß gekleidet und balanciert langnasige Köpfe mit hervorstehenden Augen und schwarzen Frisuren. Die Choristen, die sich darunter trippelnd bewegen, singen durch einen Gazeschleier hindurch. Eine große Leistung ist das, dabei noch präzise zu sein.
Die große Anzahl der Solisten hat es nicht weniger schwer. Punktgenau müssen sie auf die bewegten Comics reagieren, Vögel auf ihren Arm oder Kopf landen lassen, Pillen auf ausgestreckte Zungen legen oder England den Brexit verwehren. Das ist durchweg sehr trick- und einfallsreich, macht richtig Spaß, auch wenn die Dominanz der Comics da ist. Nur die zerborstene Kutsche fliegt als Running Gag allzu häufig vorbei. Und auch Corinnas Lobeshymne im Seria-Stil, ihr Beitrag im Potpourri europäischer Gesänge im letzten Bild, ist allzu schwach ausgearbeitet. Man kann den hoch Geehrten Charles verstehen, dass er seinem Schlafbedürfnis nachgab.
Stilgerecht accompagniert
Beide norddeutschen Inszenierungen leitet der Kieler stellvertretende GMD Daniel Carlberg und accompagniert stilgerecht vom Hammerklavier aus. Durchsichtig klang das Kieler Orchester (Premiere am 28. Januar 2017), schön auch bei den Soleinsätzen etwa von Harfe oder Flöte. Manche Tempi allerdings waren zu vehement, so dass der Zusammenhalt nicht immer klappte, auch wegen der Erschwernisse durch die Masken, die der dennoch gut klingende Chor hatte, einstudiert von Lam Tran Dinh.
Die Fülle der Solisten macht es nicht möglich, jeden zu nennen. Erfreulich sicher waren sie alle, im Solo und in den vielen Ensembles. Selten hatte jemand Mühe bei den Koloraturen, etwas mit dem Parlando. In den tragenden Frauenrollen waren als Soprane Lori Guilbeau (Corinna), Mercedes Arcuri (Folleville) und Agnieszka Hauzer (Cortese) dabei, nahezu gleichrangig, und mit sehr agilem, klangvollen Alt Tatja Jibladze (Melibea). Bei den Herren rivalisierten vor allem die Tenöre, jugendlich hell João Terleira (Belfiore) und mehr lyrisch im Klang Anton Rositsky. Seinem Namen angemessen profund klang der Bass von Timo Riihonen als Profondo. Sehr beweglich waren Tomohiro Takada (Alvaro) und Jörg Sabrowski (Trombonok), auch Kemal Yaşar. Weniger gefiel Matteo Maria Ferretti. Obwohl verliebt, erlaubte die Regie nicht, das zu zeigen. Missmutig wandte er sich dem Whiskey zu.
Gespannt darf man am folgenden Wochenende auf Lübeck sein, wo die gleiche Inszenierung mit anderen Ausführenden zu erleben ist.