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Marlene Lichtenberg (Lisa), Konstantinos Klironomos (Walter), Adrienn Miksch (Marta). Foto: Jochen Quast

Marlene Lichtenberg (Lisa), Konstantinos Klironomos (Walter), Adrienn Miksch (Marta). Foto: Jochen Quast

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Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ am Theater Lübeck – ein Abend über Holocaust-Gespenster und Schreckensfantasien

Vorspann / Teaser

Wie an anderen Orten hinterließ „Die Passagierin“ auch in Lübeck großen Eindruck, bewirkt durch die Trias von Mieczysław Weinbergs äußerst dramatischer und zugleich sensibler Musik, von dem so feinsinnigen wie dramatischen Libretto von Alexander Medwedjew und einer realitätsbezogenen, in sich glaubwürdigen Inszenierung. Bei Jüngeren wirkte das sichtbar stark emotional, als wäre alles neu, bei Älteren rief es qualvoll verblasst geglaubte Erinnerungen hervor. Lisa, die eine Protagonistin, will sie verscheuchen, „die Gespenster der Vergangenheit“. Ihr Mann Walter tröstet sie: „Wir Deutschen quälen uns gern mit Zweifeln, mit Schreckensfantasien und nebligen Geheimnissen.“ 

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Der heute noch wenig bekannte Komponist wurde 1919 in Warschau geboren. Nach dem deutschen Einmarsch entkam er, einziger seiner Familie, ins Moskauer Exil, wo er später Stalins Judenverfolgung knapp entging und bis 1996 überlebte. Ein Fixpunkt in seinem Leben war die intensive, beide belebende Freundschaft mit Dmitri Schostakowitsch, der auch dieses Bühnenwerk zu verdanken ist. Es wurde 1968 Weinbergs erstes von sieben, zugleich sein wichtigstes. Eine Inszenierung hat er nie gesehen. Sie war vom Staat verboten. Erst 2010 wurde „Die Passagierin“ wiederentdeckt, inzwischen aber mehrmals gespielt. In Lübeck hatte sie am 12. Oktober Premiere, sehr dicht inszeniert, künstlerisch begeisternd. 

Vorweg

Im Juni hatten die Lübecker Philharmoniker bereits auf die Thematik hingearbeitet. Sie konfrontierten im 8. Konzert das Publikum mit Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ (1947). Es ist bekanntlich eines, das der Komponist mit dem Glaubensbekenntnis „Schma Jisrael“ beendete. Selbst Theodor W. Adorno, der den Holocaust für nicht komponierbar hielt, räumte ein, dass „so wahr nie Grauen in der Musik geklungen“ habe (Prismen, 1955). Dem Schönberg-Werk folgte eines seines Schülers Viktor Ullmann, „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, entstanden 1944 in Theresienstadt, in dem „Musterlager“ der Nazis, das der Welt ein jüdisches Leben voller „Freizeitgestaltung“ vorgaukeln sollte. Uraufführen konnte Ullmann seine Komposition noch, nur wenige Tage später, am 18. Oktober, wurde er in Auschwitz-Birkenau in der Gaskammer ermordet. Nur 80 Jahre ist es her. 

Dort, in Baracken, Magazinen oder Werkstätten des Vernichtungslagers, spielen der eine Teil der Opernszenen, die retrospektiven. Im Mittelpunkt steht dabei das Schicksal von Zofia Posmysz (1923 – 2022), die im Libretto Marta heißt. Real war sie eine polnische Widerstandskämpferin, Redakteurin und Autorin. 1942, noch 18-jährig, wurde sie inhaftiert. Im November 1944 evakuierte man sie in das Frauenlager Ravensbrück, bis sie Anfang Mai 1945 aus der „Hölle“, wie es im Libretto heißt, befreit wurde. Dmitri Schostakowitsch hatte ihren plastischen Bericht gelesen, ihn Weinberg empfohlen. Er war tief beeindruckt und bat den in Moskau geborenen Librettisten Alexander Medwedjew (1927 – 2010), daraus die Handlung für ein Bühnenwerk zu gestalten. 

Wie weh es tut, Mensch zu sein 

Auch der zweite, zum anderen sehr kontrastive Handlungsstrang basiert auf einer weiteren biografischen Anekdote von Zofia Posmysz. In ihr spielt das zufällige „Wiedererkennen“ einer der Befehlsstimmen in Auschwitz eine Rolle. Medwedjew versetzte die Szene allerdings auf einen von Deutschland nach Brasilien fahrenden Ozeandampfer, der ihm neben der zweiten Zeitebene auch das konträre Luxusmilieu lieferte. Das stand zwar symbolisch für die Nachkriegszeit, verdrängte dennoch nicht die Erinnerungen. Stattdessen waren verquere psychische Strategien gefordert, die drängenden Schuldgefühle zu umgehen. Äußerst geschickt sind diese Bereiche durch Motivketten oder Musikstücke verschmolzen, obwohl sie zeitlich weit mehr als ein Dezennium auseinanderlagen. Die schlüssige Lübecker Inszenierung von Bernd Reiner Krieger vertiefte das zusätzlich, indem markante Gesichter von Darstellern hier wie da eingesetzt wurden, jeweils anders anmutend. Auch Hans Kudlich, Bühne, verband auf engem Raum die Milieus, beides, die hellen, luftigen Außendecks oder das düstere Innere des Schiffes war dennoch durch die geschickte Beleuchtung (Falk Hampel) schnell verortbar. 

Im inneren Bühnenraum bewegten sich die KZ-Insassinnen. Die Nazis wollten sie entpersönlichen, zu Nummern machen. Aber das misslang in den kurzen Momenten ihres Auftritts. Weinbergs Musik machte sie erneut zu Charakteren. Da waren die Russin Katja (Nalalia Willot), die unnachgiebig durch Kassiber Verbindung zum Widerstand hielt, oder die Polin Bronka (Julia Grote), die für sich und die ganze Gruppe Kraft aus dem Gebet holte, die dennoch klagte, wie weh es tue, Mensch zu sein. Da war auch die jüdische Griechin Hannah (Delia Bacher), die trotz allem optimistisch blieb, „weil wir Menschen sind, zum Leben geboren“. Das sind drei der kleineren Rollen, zufällig ausgewählt, aber alle weisen auf die Sinnlosigkeit dieser unmenschlichen wie präzisen Vernichtungsarbeit. 

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  Jacob Scharfman (Tadeusz), Marlene Lichtenberg (Lisa)  Foto: Jochen Quast

Jacob Scharfman (Tadeusz), Marlene Lichtenberg (Lisa). Foto: Jochen Quast

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Protagonistinnen

Beide Bereiche waren geprägt durch die zwei weiblichen Hauptfiguren, einerseits Marta, andererseits Lisa, auch sie einem realen Vorbild nachempfunden. Es war die KZ-Aufseherin Anneliese Franz (von Merlene Lichtenbergs Mezzo in allen Höhen und Tiefen bewältigt, auch durch ein sehr variables Spiel). Sie war eine höllische Meisterin zynischer Manipulationen. Marta (mit sehr farbigem Sopran Adrienn Miksch und bewundernswert feinem Spiel) gelingt es, sich dem zu widersetzen. Die Dialoge der beiden geben dem Libretto hohe Präsenz, so dass sie nicht parlandohaft zerfließen. Weinbergs Partitur, einfühlsam von Takahiro Nagasaki, dem 1. Kapellmeister, ausgedeutet und von den Philharmonikern schnörkellos gespielt, hat zudem nicht nur gewichtige Momente, sie erhält eine steuernde, vorbereitende Funktion, die der Handlung grandios angepasst ist und beides, Musik und Sprache, in hohem Maße verbindet. 

Das Stück ist eigentlich ein Frauenstück mit nur wenigen SS-Schergen. So bekommen nur die beiden Hauptfiguren einen männlichen Partner. Marta trifft im KZ zufällig ihren Verlobten (Jacob Scharfman mit kraftvollem, weit gespanntem Bariton) wieder. Tadeusz ist ein Musiker, ebenso unbeugsam wie sie. Seine Erschießung vor ihren Augen wird zu einer der härtesten Szenen. Lisa dagegen ist auf Hochzeitsreise mit Walter (Konstantinos Klironomos mit hörenswertem Tenor). Er ist auf dem Wege, BRD-Botschafter in Brasilien zu werden, aber mit unbekannter Vergangenheit. Auch deren Auseinandersetzung nimmt mit, ihre Verharmlosung, ihr Wirklichkeitsverlust.

Es wurde ein in vielerlei Hinsicht vielschichtiges und außergewöhnliches Theatererlebnis, nicht zuletzt durch die unaufdringlichen Kostüme Ingrid Leibezeders. Es ist eines mit Blick in Geschichte und Gegenwart und dem Auftrag: Besinnt euch! Deshalb soll Marta das letzte Wort haben, so wie im Libretto: „Ich hör’s noch: ‚Keine Vergebung – niemals.‘ … Ich werde euch nie und nimmer vergessen …“ 

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