Die nordsyrische Stadt Aleppo, von deren Zerstörung die Medien fast täglich berichten, wurde 1986 durch die UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Stadt unter französische Kolonialherrschaft geraten.
Vielleicht war es deshalb ein Franzose, der 1953 in Paris geborene Julien Weiss, der wohl als erster Europäer die Musiktraditionen Aleppos entdeckte. Nach dem Übertritt zum Islam gründete er 1983 als Julien Jâlal Eddine Weiss zusammen mit Sufi-Sängern und einem Muezzin das Ensemble „Al-Kindi“, das arabisch-osmanische Traditionen auf Konzertreisen und CD-Aufnahmen international verbreitete. Bei dem auf der klassischen Gitarre ausgebildeten Weiss löste 1976 die Begegnung mit dem irakischen Oud-Virtuosen Munir Bashir ein Interesse für arabische Musik aus. Von der Gitarre wechselte er zur orientalischen Zither Qanun oder Kanun, deren Intonation während des Spiels durch Stimmhebel verändert werden kann.
Der deutsche Komponist und Musiktheoretiker Stefan Pohlit, der seit 2007 in der Türkei lebt, traf 2009 mit Weiss zusammen und erfuhr dabei von dessen Auffassung, dass die konventionelle Qanun falsch gestimmt sei. Inspiriert durch einen verschollenen Qanun-Bautyp aus Aleppo wollte Weiss in einem eigenen Stimmsystem unterschiedliche regionale Bräuche zur Synthese bringen. Pohlit machte dieses Stimmsystem 2011 zu seinem Dissertationsthema.
Als Julien Jâlal Eddine Weiss 2015 an Krebs starb, entstand bei Pohlit der Plan zu einem Konzertprojekt. Einen Partner fand er in dem 1989 in Leipzig geborenen Komponisten Konstantin Heuer, der nach der Lektüre von Pohlits Dissertation das Weiss-Qanun in polyphoner Musik verwenden wollte. Nachdem noch das letzte Weiss-Qanun gefunden worden war, kam es zu mehreren Kompositionsaufträgen für das 2012 in Rostock gegründete und von Heuer geleitete Neophon Ensemble. Dieses auf Mikrotonalität spezialisierte und inzwischen in Berlin residierende 13-köpfige Ensemble brachte unter dem Motto „Aleppo Dialogues. 1001 Töne aus der Zukunft“ jetzt 6 neue Werke in der Berliner Villa Elisabeth zur Uraufführung.
Den Anfang machte ein Satz aus Weiss’ letzter Komposition „Spiritual Journey“, gespielt von Tolga Volkan Kilic (Qanun) und Osman Öksüzoglu (Percussion). Verwundert las man im Programmheft, dass diese tänzerische Musik als Stabat Mater gedacht war. Die US-amerikanische Komponistin Catherine Lamb, eine Schülerin von James Tenney, verweigerte sich dem Thema, indem sie in „orbis ascendentes“ die Qanun nicht als Vertreter einer Kultur, sondern nur als „konkreten Klangerzeuger“ begriff. Mechanisch und gleichförmig stellte sie der leisen Zither Halteklänge des Ensembles gegenüber. Interessanter wirkte „The Otherness“ des 1980 in Buenos Aires geborenen Ezequiel Menalled. Klangflächen des Ensembles näherten sich der orientalischen Stimmung an und überlagerten sich, übertönten allerdings meist das zarte Soloinstrument.
An Eingeweihte richtete sich Stefan Pohlit mit seinem „Tombeau de Julien Bernard – im Andenken an das zerstörte Aleppo“. Nur Kenner werden in dieser ausgefeilten Ensemblekomposition die dort verwendeten Motive aus Hauptwerken des verstorbenen „Parsifal in Aleppo“ sowie im Atem der Blasinstrumente Anspielungen auf Sufi-Zeremonien bemerkt haben. Dass der Qanun-Solist dabei keinen einzigen Ton spielte, mag als Kommentar zum heutigen Aleppo gewertet werden. Wenigstens kurz zu Gehör kam die Qanun-Zither in „Dispersion“ des Iraners Arash Yazdani. Ob der Solist seine Rhythmen allerdings tatsächlich aus Meditationen über Werke der iranischen Poesie, von Martin Luther und Laotse entwickelte, lässt sich kaum nachprüfen.
Weniger esoterisch angelegt war die Komposition „Al-Nahl“ des Ensembleleiters Konstantin Heuer. Er hatte eine Koran-Rezitation in Qanun-Melodien übertragen, die das Ensemble in mitteleuropäischer Manier mit eigenen Kontrapunkten beantwortete. Der Abend endete sehr leise mit „stein. wasser. weiss. schwarz“ des Österreichers Klaus Lang. Das konzentriert spielende Neophon Ensemble reagierte hier mit langsamen Glissando- und Tremolo-Feldern, Flageolett- und Blasgeräuschen auf kaum merkliche Modulationen des Soloinstruments.
Angesichts der brutalen Zerstörung der syrischen Stadt einschließlich ihres Musiklebens wirkten die oft esoterischen mikrotonalen Studien des Konzertprojekts und sein Untertitel „1001 Töne aus der Zukunft“ wie ein Hohn. Offenbar glauben die Veranstalter, die ihr Programm auch in der Türkei wiederholten, an das sprichwörtliche weiche Wasser, das schließlich doch den harten Stein besiegt. Stefan Pohlit erstrebte mit seinem Projekt nichts Geringeres, als „das utopische Aleppo von Neuem zu errichten“.