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Foto: Bach-Archiv Leipzig/Gerd Mothes
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Mit „Bachs Messias“ zwischen den Stühlen

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Das Leipziger Bachfest 2021 erntete vor allem digitalen Widerhall
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Bei Bach werden Intendanzen, Dramaturgien und PR in ihrer Sprachgestaltung gerne metaphysisch. Das ist zum Beispiel bei Florian Wiegand, Konzertchef der Salzburger Festspiele, zum Zyklus „Himmelwärts“ im Sommer 2021 nicht anders als bei Michael Maul, dem Intendanten des Bachfests Leipzig, für den elfteiligen Kantaten-Zyklus „Bachs Messias“ im Juni 2021.

Sensationell war Michael Mauls großer Plan mit dem natürlich auch auf die Pandemie bezogenen Bachfest-Motto „Erlösung“ und dessen Filetstück „Bachs Messias“. Aus Teilen von Bachs Kantaten-Schaffen schlug er ein synthetisches Großwerk mit dramatischem Handlungsfaden und spirituellen Zellen. Dabei setzte er originale Evangelientexte – und keine anderen – zwischen seinen natürlich subjektiven Kantaten-Digest von Teil 1 (Verheißung) bis Teil 11 (Himmelfahrt und Pfingsten). Die äußere Handlung führte über klare Fixpunkte (Weihnachtsoratorium, Passionen) – die komplizierten Koordinaten für den Verlauf des Kirchenjahres blieben aber ebenso unberührt wie das vielschichtige Netz von thematischen, rituellen und exegetischen Bezügen.

In Leipzig wurde „Bachs Messias“ wegen der Pandemie zweigleisig für alle digitalen und physischen Aufführungsmöglichkeiten vorbereitet. Stellenweise hatte man Kantaten gekürzt. Die von Ulrich Noethen in jedem Konzert aus den Evangelien rezitierten Zwischentexte ergaben den inhaltlichen Leitfaden. Natürlich wirkten am Originalschauplatz von Bachs Wirken und Ort der Reformation viele Eliten der historisch mehr oder weniger informierten Aufführungspraxis mit. Dazu gesellten sich einheimische Hoffnungsträger wie der Tenor Patrick Grahl oder die Mezzosopranistin Susanne Krumbiegel aus der Leipziger „Die Prinzen“- und Musikprofessoren-Familie.

Der Zyklus „Bachs Messias“ ist als performativer Spiegel des kirchenmusikalisch-säkularen Tauwetters im Sommer 2021 ein Fall für die Musikgeschichtsschreibung. Michael Maul gewann keinen Geringeren als den emeritierten Stellvertreter Petri für das Grußwort 2020/21. Benedikt XVI., Papa emeritus, schrieb in Vatikanstadt am 18. Juni 2019: „Dass Intendant Dr. Michael Maul, dem wir diese Konzeption verdanken, dabei meine Jesus-Trilogie als ideellen Leitfaden vor Augen hatte, ist eine besondere Freude für mich, die ich nur mit großer Dankbarkeit aufnehmen kann. Das große Gemälde Jesu Christi, das so in 18 Stunden Musik entstehen wird, ist zunächst ein kulturelles Ereignis.“ Bei „Bachs Messias“ galt es also vor allem der Kunst. Das Projekt hätte durch diesen Beitrag zum tollen Reiseanlass für katholisch orientierte Gläubige und Musikanhänger in die für diese sonst nicht so ergiebige Boomtown werden können. Stephan Rommelspacher, Propsteikantor der katholischen Gemeinde St. Trinitatis, erfüllt in Leipzig seinen Dienst für etwa 4,3 Prozent Katholiken in der Gesamtbevölkerung Leipzigs – Tendenz leicht steigend – und hätte nach ursprünglicher Planung bei einer der ursprünglich vorgesehenen 120 Veranstaltungen des Bachfests 2021 ursprünglich mitwirken sollen. Rommelspacher bezeichnet Messen von Haydn, Mozart und Schubert im Vergleich zu seiner vorherigen Anstellung in Trier in Leipzig als Nischen- bis Spezialrepertoire. Bach-Konzertvereinigungen in katholisch geprägten Hochburgen wie München und Salzburg sind dort mit Bach-Aufführungen überaus aktiv und präsent, während das Angebot an katholisch geprägten (Kirchen-)Konzerten in Leipzig dünn ist. Sogar Gewandhausorganist Michael Schönheit setzt Oratorien von Hasse und Bruch nur bei den Merseburger Orgeltagen auf das Programm. Im Leipziger Gewandhaus wagt er allenfalls in größeren Abständen einen kurzen Lully.

Am 15. Juni traf Maul im von einer öffentlichen Veranstaltung ins Studio verlegten MDR-Talk auf Kardinal Marx. Dessen erstes Rücktrittsangebot an Papst Franziskus wegen des Missbrauchskandals lag da bereits vor. In der Sendung ging es allerdings vor allem um das überkonfessionelle Konzept des Bachfestes und die Bach-Begeisterung des Kardinals, der dessen Musik auch gerne im Auto hört. Geschwiegen wurde dagegen von beiden Seiten über die schwerste Erschütterung der katholischen Kirche als Institution seit Menschengedenken. Marx bekannte sich als Bachianer („Kein Tag ohne Bach“) und man zitierte Mauricio Kagel: „Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle an Bach.“ Die Diskussionen um den von der Stadt Leipzig im Januar 2021 als Nachfolger von Gotthold Schwarz berufenen katholischen Thomaskantor Andreas Reize waren zum Beginn des Bachfests beigelegt. Reize hatte nicht nur pädagogische Softskills wie Gemeinschaftsaktivitäten angekündigt, sondern auch seine Absicht, den weltberühmten Thomanerchor aus vom Gewandhausorchester mitbestimmter Tradition in Richtung einer historisch informierten Aufführungs- und Originalklangpraxis zu motivieren.

Die Konzerte von „Bachs Messias“ wirkten wie unberührt von diesen Ereignissen. Als Rahmenprogramm und dramaturgischer Anreiz zum Dialog war allerdings die in erster Linie für internationales Publikum gedachte Kabinettausstellung „Bach & Triegel“ mit christlichen Bildwerken des 2014 getauften Malers Michael Triegel (geb. 1968) geplant. Der bekennende Christ Triegel vertritt den Standpunkt, dass „Kunst so politisch sein muss, wie es der Ansicht des Künstlers entspricht.“ (Interview in chrismon 6/2021) Er wendet das tradierte Motivrepertoire der christlichen Sakralkunst an, setzt es allerdings in semantische Anführungszeichen und fordert mit Details zu subjektiven, undogmatischen Deutungen heraus.

Trotz digitaler Verfügbarkeit auf der vom Bachfest, den Thüringer Bachwochen und den Köthener Bachfesttagen eingerichteten Website www.bachfromhome.live blieb vom Bachfest 2021 neben einer Flut von Dankschriften der internationalen Bachfest-Gemeinde der Eindruck von kommunikativer Auszehrung. Gewiss gab es Watchpartys, digitale Kontaktfenster, digitale Einführungen und Programmhefte. Maul ringt mit dem gesamten Stab des Bach-Archivs Leipzig um Präsenz und Korrespondenz, Kulturvermittlung und Gegenwartsrelevanz. Wer von den spärlichen Besuchern setzte in der Öffentlichkeit Mauls Zyklus in Beziehung zu den brisanten Ereignissen des kirchlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, die sich im Frühjahr 2021 bedenkenswert akkumulierten?

In der digitalen Allgegenwärtigkeit ragt „Bachs Messias“ als zyklischer Meilenstein mit Alleinstellungsmerkmal heraus aus dem Gros der Leipziger Musikproduktion. Die Klage um das Verpassen entscheidender Impulse für eine Reform der Aufführungspraxis in Sachen Alte Musik wird in der Musik- und Messestadt Leipzig immer deutlicher vernehmbar. Da sitzt Maul als Bachfest-Intendant zwischen zwei Stühlen – zwischen Individualitäten des lokalen Luxusklangkörpers Gewandhausorchester und dem eigenen besseren Wissen um die bestmögliche approximative Wiedergabe von musikalischen Gegebenheiten des frühen 18. Jahrhunderts. „Bachs Messias“ ist demzufolge das Dokument eines hochqualitativen Interpretationspluralismus um 2020. Aber die symbolische und performative Bedeutung des Zyklus könnte bald in Vergessenheit geraten, weil die Klammer eines großen physischen Gemeinschaftserlebnisses entfallen war. Auch das ist ein Phänomen, weshalb digitale Musikerlebnisse in den eigenen vier Wänden nicht schleichend zur Regel werden dürfen.

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