Die Kasseler Musiktage feierten ihren „Fünfundsiebzigsten“. Im Herbst 1933 lud der „Arbeitskreis für Hausmusik“ zum ersten Mal die Bürger der Stadt zu den Musiktagen ein. Volkslieder, Chöre, das Selbst-Singen und die Verbreitung der Liedkultur standen im Mittelpunkt aller Aktivitäten. Durch den Verleger Karl Vötterle trat auch die evangelische Kirchenmusik immer stärker im Programm hervor.
Nachdem das Dritte Reich für den Arbeitskreis und die Musiktage in einem Balanceakt zwischen „Unterwerfung und Selbstbestimmung“ überstanden war, konnte man die Kasseler Musiktage 1952 wieder ins Leben rufen. Durch die Beteiligung des Hessischen Rundfunks und seines Sinfonieorchesters sowie des Hessischen Staatstheaters Kassel erfuhr das Programm eine erhebliche Erweiterung. Neben Kirchenmusik, Gottesdienst und Hausmusik trat die musikalische Moderne immer stärker hervor. Die Aufführung von B. A. Zimmermanns „Soldaten“ an der Kasseler Oper markierte einen Höhepunkt auch für die Musiktage.
Seit drei Jahren leitet Dieter Rexroth das Kasseler Festival, das eigentlich so nicht bezeichnet werden möchte. Rexroth ist ein Mann der Moderne, aber mit historischem Bewusstsein. Er sieht die abendländische Musikgeschichte als ein großes Kontinuum, mit unendlich vielen Quer-und Rückverweisen und einem couragierten Blick nach vorn, in die Zukunft der Musik und der Kunst überhaupt.
Rexroths Programmierungen zeichnen sich stets auch durch eine ausgeprägte gesellschaftliche Komponente aus, nicht ideologisch verengt, sondern eher in einem existentiellen Sinn. „Das Göttliche im Alltäglichen“ war das Thema seiner ersten Musiktage, „Lebenswelten und Kunstwelten“ im zweiten Jahrgang. Diesmal hieß der Titel „InnenAussenInnen – in doppelter Wirklichkeit“: ein Exkurs in menschliche Wahrnehmungsfähigkeiten, bei dem der Kunst eine entscheidende Rolle zufällt.
Das Programm war weit ausgespannt. Christa Wolfs „Kassandra“, für die griechisch-antike Kultur, und Joseph Roths „Hiob“, für die altjüdische Kultur, erfuhren aktuelle, durch Musik strukturierte Darstellungen. Das Belcanto-Ensemble von Dietburg Spohr gastierte mit einem eindrucksvollen Adriana-Hölszky-Abend sowie mit neuen Goethe-Vertonungen, unter anderem von Nikolaus Brass („Erlkönig“), Dieter Schnebel (u.a. „Wanderers Nachtlied“), Erik Janson („Gretchen – Upgrade“) und Wolfgang Florey (aus dem Faust-Monolog). Goethe selbst hatte ja ein gebrochenes Verhältnis zu Vertonungen seiner Gedichte und Texte. Zelter stand ihm näher als Schubert oder Beethoven. Dass Goethe-Texte heutigen Komponisten erheblichen Widerstand entgegensetzen können, konnte man schon bei einer Reichenhaller „Liederwerkstatt“ im Jahr 2007 konstatieren. Immerhin: Schnebels Übersetzung von drei Gedichten in „Sprachklänge“ sichert sich eine gewisse kompositorische Autonomie. Nikolaus Brass’ „Erlkönig“ entwirft für die drei Figuren des „Dramas“ einen subtilen Klang-Seelen-Raum, in dem sich die drei Stimmen in einer Figur zu vereinen scheinen.
Das Zentrum der diesjährigen Musiktage aber bildete, wie im Vorjahr, Beethoven. Nach dem Zyklus der Streichquartette folgten jetzt in zwölf Konzerten alle Klaviersonaten, Bagatellen sowie der Großteil der Variationswerke. Waren für die Streichquartette renommierte Quartettvereinigungen engagiert, so wartete Dieter Rexroth diesmal mit einer Überraschung auf, die gleichwohl ideal zur gleichsam musikpädagogischen Note der Kasseler Musiktage passte. Rexroth schrieb ein Dutzend ausgewiesener Klavierlehrer an und bat sie, ihm jeweils zwei qualifizierte Schüler zu benennen, auf die dann das komplette Klavier-Werk des Komponisten entsprechend verteilt werden sollte. Die Pädagogen waren begeistert, nicht zuletzt deshalb, weil auf diese Weise ihre Studenten Gelegenheit fanden, sich intensiv mit dem eine Zeitlang doch arg vernachlässigten Thema „Beethoven“ auseinanderzusetzen.
Wie bei den Streichquartetten wurden in den einzelnen Konzerten auch zeitgenössische Werke mit Beethoven konfrontiert. Da für spezielle Kompositionsaufträge diesmal das Geld fehlte (warum eigentlich? Gibt es in Kassel keine Mäzene?), war man meist auf das angewiesen, was die einzelnen Pianisten von sich aus anboten. Nicht alles davon vermochte mit Beethoven auch nur entfernt zu konkurrieren, aber es gab auch ältere Stücke von Henze, Messiaen oder Ligeti, die für angemessene Korrespondenzen mit Beethoven sorgten.
Der Gesamteindruck der Beethoven-Konzerte erscheint wichtiger als die einzelne Leistung, die in der Regel auf pianistisch gutem bis hohem Niveau stand. Das Entscheidende ist, dass sich junge Pianistinnen und Pianisten wieder intensiv und emotional engagiert mit Beethovens Klavierwerk auseinandersetzen, dieses in seiner Modernität erkennen. Und wenn dann die junge Koreanerin Ho-Jong Lee die „Hammerklavier“-Sonate oder die Sonate op. 28, Björn Lehmann die Diabelli-Variationen oder Christian Chamorel aus der Meisterklasse von Homero Francesch die Sonate E-Dur op. 109 nicht nur mit den Händen, auch mit Herz und Verstand gestalten, dann weiß man, dass die adäquate Beethoven-Interpretation nicht mit Arrau oder Gulda zu Ende gegangen ist.