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Mit Brechtschen Mitteln, musikalisch zur Oper erhoben und chic gestylt –Bernsteins „Candide“ an der Staatsoper Berlin

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Es heißt, wie Candide selbst vergeblich die „beste aller Welten“ suche, so habe Leonard Bernstein für seine Musikdramatisierung von Voltaires philosophisch-satirischem Roman auch die „beste aller Fassungen“ bis zuletzt nicht gefunden. Das vom Komponisten in vier unterschiedlichen Versionen abgefasste, zuletzt auf eine Konzert-Version reduzierte Musical ist in Berlin in Bernsteins vorletzter Fassung von 1989 für die Scottish Opera zu erleben. Aber die Dialoge dieser Fassung sind gänzlich ausgemerzt. Statt dessen zitiert der Darsteller des Candide in Berlin aus Voltaires, auch von den anderen Handlungsträgern immer wieder als Lektüre herangezogenen „rotem Buch“, welches hier – ähnlich wie in George Taboris Inszenierung von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ das Buch des gedruckten Stücktexts – Motor der Spielvorgabe ist.

Den Bogen zu Bert Brechts epischem Theater – etwa bei der ebenfalls in Kriegswirren angesiedelten Handlung der „Mutter Courage“ – schlagen projizierte Texte, die dem Publikum neben der Übersetzung der in Originalsprache gesungenen Aufführung – die wichtigsten Handlungsmomente vermitteln, zwar mit Brechtgardine, aber in einer chiquen Ästhetik. Die Handlung selbst ist in der verknappten Erzählweise des in wechselnden Farben beleuchteten Grundraums einer Gummizelle, mit Empore für den Chor, sowie mit abstrahierten Requisiten, nicht nachvollziehbar. Eine ausgiebig genutzte Badewanne wird zum Flugobjekt, ein Firmenkarton des westfälischen Schlosses Thunderten-Tronck zum Lotterbett und Versteck des Philosophen Pangloss, in Neu-Westfalen dann zu dem von Candide erworbenen Schiffswrack (Bühnenbild: Vincent Lemaire). Sehenswert sind die artifiziell erdachten und trefflich umgesetzten Kostüme des Modemachers Christian Lacroix.

Dass die Handlung nicht nachvollziehbar ist, liegt nicht (allein) an der Verfremdung durch den Regisseur Vincent Boussard. Schon das Libretto von Hugh Wheeler, mit zusätzlichen Songtexten von Stephen Sondheim, John LaTouche, Dorothy Parker, Lillian Hellman und Leonard Bernstein selbst, ist ein dramaturgisches Unding.

Die Liebesgeschichte des ungleichen westfälischen Schülerpaars Candide und Cunegonde wird zu einer Weltreise über die Schauplätze Lissabon, Paris, Buenos Aires, Montevideo, Konstantinopel, Neu-Westfalen in der neuen Welt und Venedig. Die grob gestrickte Bilderfolge enthält sehr skurrile Momente, wie Candides eifersüchtigen Mord an einem Erzbischof und einem Juden, als den Freiern seiner aus Luxussucht zur Dirne gewordenen Conegonde, oder das Erschießen zweier Affen, da Candide zu spät erkennt, dass diese keine Bedrohung zweier junger Mädchen darstellen, sondern deren Lover sind.

Text-Projektionen machen Eldorado kurzum zur „Eldorado Clinic“ und den Venezianischen Karneval zur „Venice Clinic“, einem bettenreichen Irrenhaus. Candides 80 Lasthammel werden auf zwei geflügelte Reisetaschen mit Schafsköpfen reduziert. Und einige Handlungsmomente, die zwar in der Inhaltsangabe des Programmhefts beschrieben sind, entfallen in der Berliner Aufführung ganz.

Dem britischen Dirigenten Wayne Marshall gelingt es weitgehend, das stilistisch vielfältige, potpourriartige Mixtum aus Operette, Oper, Music-Hall-Songs, Folk-Music und Jazz zu einer Einheit zu zwingen. Durch breite Tempi und Herausarbeitung der Leitmotive betont er in Bernsteins Musical primär das Opernhafte. Ebenso dem Aufführungsort wie den vorherrschend kraftvollen Opernstimmen geschuldet, kommt die berühmte Ouvertüre im Stile der Opera buffa bereits schwergewichtig daher.

Lyrischen Koloraturgenuss verschafft die Sopranistin Maria Bengtsson mit der hier mehr virtuosen denn parodistischen Arie „Glitter And Be Gay“. Der italienisch-amerikanische Tenor Leonardo Capalbo leiht der Titelpartie für den deren Jammer wie für das idealistische Schwärmen herzergreifende Klänge. Im angenehmen Kontrast dazu der deutsche Tenor Stephan Rügamer als Protagonist fünf kleinerer Partien.

Großartig sind die schauspielerischen Leistungen der Sängerdarsteller, bis hin zu akrobatischen Kletterkünsten. Führend in dieser Kombination ist die österreichische Mezzosopranistin Stephanie Atanasov als Planquette. Doch auch davon nicht ausgenommen ist die über 70-jährige Anja Silja, die dem Weill-Stil wie den dramatischen Opernmomenten der Partie der Old Lady voll gerecht wird; sie überzeugt mit intensivem Spiel und löst – nicht nur mit dem Ohrfeigen eines ungelehrigen Papageis – Lacher im Publikum aus durch den Wortwitz in ihrer deutlichen Artikulation.

Einziger stimmlicher Fremdkörper im Opernensemble ist der singende (Film-)Schauspieler Graham F. Valentine, der seine enorme Charakterisierungsbandbreite für die Partien der unterschiedlichen Philosophen Pangloss und Martin witzig einzusetzen versteht.

Exzessiv agieren einige Tänzer in der Choreographie von Helge Letonja.  Entscheidend zur musikalischen Gesamtwirkung trägt, mit Piani aus dem Nichts, der Staatsopernchor bei. Den Applaus für dessen exquisite Einstudierung empfängt allein Frank Flade, denn der hauptverantwortliche Chordirektor Eberhard Friedrich probt bereits in Bayreuth für die Festspiele. Der Beifall des Publikums für das selten gespielte Musical ist dankbar und auch für das Regieteam ohne Widerspruch.

Weitere Vorstellungen: 26., 28., 30. Juni 2011

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