Im vierten Satz von Mahlers 1. Symphonie fiebert der Schlagzeuger dem entscheidenden Beckenschlag entgegen. Um die finale Choral-Apotheose des Werks einzuleiten, sucht der Musiker sein Beckenpaar möglichst sicher zu fassen, er zieht die Griffe wiederholt nach, wiegt das Gewicht der Instrumente, tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen und starrt gebannt auf den Dirigenten. Wann kommt der Einsatz? Die Spannung steigt und die Musik drängt ihrem finalen Durchbruch entgegen. Das ist hörbar und dem ganzen Orchester auch sichtbar anzumerken. Der Dirigent vergrößert seine Espressivo-Gesten, die Violinen streichen immer schneller und intensiver über die Saiten, die acht Hornisten recken die Stürze ihrer Instrumente nach oben, und die Gesichter der Trompeter laufen rot an: Fantastische Musik – und großes Theater!
Auch wenn das 19. Jahrhundert mit Operngraben und verdecktem Orchester die Sichtbarkeit der Hervorbringung von Klang zu verdrängen suchte, war die Aufführung von Musik immer schon ein Erlebnis für alle Sinne, vor allem für Hören und Sehen. Denn neben den Spielgesten reagieren Musiker mimetisch mit ganzem Körper auf Musik, um deren gestischen Charakter hör- und sichtbar nachzuzeichnen. Igor Strawinsky brachte es in seinen „Erinnerungen“ (1936) auf den Punkt: „Wenn man Musik in ihrem vollen Umfang begreifen will, ist es notwendig, auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers zu sehen, durch den sie hervorgebracht wird.“ Und später prägte Dieter Schnebel im Essay „Klang und Körper“ (1988) die Formel: „Die Geste ist so etwas wie ein optischer Ton“. In jedem Fall gilt: Wir hören etwas anders, wenn wir dazu etwas sehen – und wir sehen etwas anders, wenn wir dazu etwas hören. Sicht- und Hörbares überformen sich wechselseitig. Und der gegenwärtige Trend vieler jüngerer Komponisten, nicht „nur“ Musik zu komponieren, sondern auch die visuelle Erscheinungsweise von Musik durch Szene, Bewegung, Licht, Video oder Film mitzugestalten, reagiert auf zwei gegenläufige Entwicklungen: 1. dass immer mehr Menschen Musik nicht mehr in Oper und Konzert erleben, sondern unsichtbar und medial vermittelt über Lautsprecher und Kopfhörer; 2. dass immer mehr Menschen mit Kopfhörern und offenen Augen durch Stadt und Land spazieren und Musikvideos im Internet sehen.
Beispiele für interaktives Hören und Sehen präsentieren vom 22. bis 24. April die Wittener Tage für neue Kammermusik. Als Uraufführungen zu erleben sind dort von Johannes Kalitzke „Schatten. Eine nächtliche Halluzination. Musikalischer Irrgarten“ zum gleichnamigen deutschen Stummfilm von Arthur Robison von 1923, ferner das auf den berühmten venezianischen Maler des 18. Jahrhunderts bezogene Ensemblewerk „Apollon et les continents, d’apres Tiepolo“ von Hugues Dufourt sowie „Die Paradoxie der Sichtbarkeit“ von Malte Giesen. Hinzu kommen Adriana Hölszkys „Klangbilder“ mit dem Titel „grenzWELTEN/zeitENDEN“, eine „Musikkammer mit Bildzuspielungen“ von Uli Aumüller sowie zwei neue Stücke der Serie „Public Privacy“ von Brigitta Muntendorf, namentlich eine „audiovisuelle Überwachungsskulptur mit live pop-ups“ und ein Stück für vier Solomusiker und mixed media. Die weiteren Novitäten stammen von Johannes Boris Borowski, Birke Bertelsmeier, Eun-Ji Anna Lee, Enno Poppe, Mikel Urquiza, Franck Bedrossian, York Höller, Juliana Hodkinson, Aureliano Cattaneo, Jesper Nordin und dem diesjährigen Porträtkomponisten Gérard Pesson. Die Oper Graz bietet am 1. April unter dem gemeinsamen Projekttitel „Und der Himmel so weit“ Werke von Franz Schubert zusammen mit neuen Stücken von Isabel Mundry zu einer Choreographie von Jörg Weinöhl. Nun denn: Wer Augen hat, der höre!
Weitere Uraufführungen
04.04.: Tomasz Skweres, Neues Werk, Neuhaussaal Theater Regensburg
07.–10.04.: Cristian Lolea, Samir Odeh-Tamimi, Damian Scholl, neue Werke beim Forum neuer Musik, Deutschlandfunk Köln
09.04.: Liza Lim, Tree of Codes – Eine Oper, Oper Köln im Staatenhaus Köln
14.04.: Adriana Hölszky, Exodus für das Stuttgarter Percussionensemble ZKM Karlsruhe
16.04.: Detlev Müller-Siemens, Subsong 1 für Ensemble Phoenix, Basel
19.04.: Andreas Winkler, Solo-Sonata für Violine, und Andreas Moustoukis, Dark Matter für Klavier und Violine, Büro von ON – Neue Musik Köln
30.04.: Toshio Hosokawa, drei neue Werke für Klavierquintett, Oboe solo und Viola solo, Festival Acht Brücken Köln