Elektronische Musik hat im Gegensatz zu Instrumentalmusik etwas Immaterielles, Körperloses an sich. Die magnetische Kraft, die beide aufeinander ausüben – klanglich wie konzeptuell – arbeitete sich bei den diesjährigen Wittener Tagen für neue Kammermusik subtil, aber konstant in den Vordergrund.
Der Computer in der Interaktion mit Instrumentalisten ist zumal zentraler Forschungsgegenstand des Komponisten Philippe Manoury, der dieses Jahr „composer in residence“ war. Das neue Werk „Le temps, mode d’emploi“ für zwei Klaviere und Live-Elektronik, gespielt vom Duo GrauSchumacher, erwies sich als exemplarisches Produkt aus Manourys „Labor“. In einer Art Zeitwahrnehmungsstudie werden zwei reale Klaviere durch vier virtuelle zu einem einzigen synthetischen Klangraum ergänzt. Den sich überlagernden, sich gegenseitig einholenden Schichten liegt ein gleichmäßig fließender Staccato-Puls zugrunde, der selbst in ruhigeren Passagen noch nachvibriert. Man wähnt sich in einer Matrix, in der Wahrnehmungsphänomene, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen, gleichzeitig geschehen. Sich dem unablässigen, raumgreifenden Sog dieser Musik zu entziehen ist genau so unmöglich, wie an einer eindimensionalen Orientierung festzuhalten. Darin mag auch die überwältigende Wirkung liegen.
Philippe Manoury I
Warum schreibt man eine Musik, die die Grenze des physisch Spielbaren und technisch Realisierbaren übersteigt? Diese Frage kann sich bei Philippe Manoury schon mal aufdrängen. Im Künstlergespräch des Dialogkonzerts kristallisierte sich hier der Gedanke der konstanten Evolution heraus: Laufend entwickeln sich Computer- und Spieltechnik weiter. Allerdings nicht von selber. So kann man seine Musik als eine Art praktischen Anstoß für den Fortschritt begreifen. Aktuell unlösbare Problemstellungen leiten in der Gegenwart den Lösungsweg ein, dessen Ende in unabsehbarer Entfernung liegen mag. Diese zuversichtliche Haltung des 1952 geborenen Franzosen, die jeder pessimistischen Ratlosigkeit in der Neuen Musik gepflegt und mit Substanz in die Parade fährt, wirkte sich auf diese Festivalausgabe positiv und erfrischend aus. Anstelle der verbreiteten Sorge, man könne musikalisch nichts Neues mehr schaffen, steht bei Manoury der Versuch, eine Vision ungeachtet und jenseits ihrer aktuellen Machbarkeit zu verfolgen. Und er bleibt dabei doch immer Komponist. Inspirierte wie rigoros kalkulierte, dichte Konstruktionen erinnern daran, dass es ihm primär um Musik, nicht per se um Veränderung geht.
Stefan Prins
Wenn auch aus anderer Perspektive, so sensibilisierte schon „I’m your body“ von Stefan Prins – das erste Stück am Eröffnungsabend mit dem Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomarico – für die weitgehenden Implikationen digitaltechnischen Fortschritts. Ein Ingenieursstudium bildet den Grundstein der Komponistenlaufbahn des jungen Belgiers, der gerne in umgekehrter Reihenfolge denkt: das musikalische Konzept leitet sich aus Prins’ Reflektionen zu technischen Entwicklungen und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen ab. In „I’m your body“ für verstärktes Quartett, Ensemble und Live-Elektronik beschäftigt er sich mit der heutigen Tendenz zur scheinbaren Hybridisierung von realen und virtuellen Körpern mittels Digitaltechnik. Musikalisch manifestiert sich dieser „multidimensionale Hybridkörper“, wie Prins sein Werk nennt, in einer geradezu erschreckend nahtlosen Mischung akustischer Instrumentalklänge mit abrupten Störgeräuschen, Phasen von ohrenbetäubendem Rauschen und aggressiv hereinplatzendem Digitalkrach. „I’m your body“ scheint die Klang gewordene Frage zu sein, ob und wie lange der Mensch sich selbst noch von seinem „digitalen Avatar“ abgrenzen kann.
Philippe Manoury II
Manourys Werk einmal aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können erwies sich als durchaus erhellendes Erlebnis, das ein breites Spannungsfeld seiner Einflüsse erschließt. Nicht der Fortschrittgedanke allein prägt sein Werk. Kreative Gegenkraft zu seiner Arbeit mit Live-Elektronik ist sein starkes Bewusstsein für Tradition und materielle Ursprünglichkeit. Am deutlichsten wurde das spätabends in der Kirche von Witten, wo das Arditti Quartet Manourys drittes Streichquartett „Melencolia I“ uraufführte. Es bezieht sich auf den gleichnamigen Kupferstich Albrecht Dürers, der einen finster blickenden Engel umgeben von symbolträchtigen Werkzeugen und Objekten zeigt, darunter Waage, Leiter, Glocke, Zahlenquadrat, Sanduhr etc. Körperlichkeit und Haptik sind hier im wahrsten Wortsinn tonangebend, doch die Spuren eines synthetischen Klangdenkens sind auch in dieser rein akustischen Komposition erkennbar. Fernab von jeder Klangästhetik lässt ein Reichtum an Flageoletts, Pizzicati, harten Bogenansätzen und unsonoren Tönen Materialsinnlichkeit und Konstruktionsparameter sich dicht ineinander verschränken mit einer fast spirituellen Feierlichkeit. Der meditativ wiederkehrende Glockenschlag spricht gleichermaßen von Handwerk und Zeitstundung. Und wie sich zum Schluss die Glockensignale ganz zaghaft in eine eigene, assoziationsfreie Stimme verwandeln, erfüllt eine magische Atmosphäre den Kirchenraum.
Arditti Quartet – Jubiläum
Wenig Feierlichkeit wiederum beim freudig erwarteten Jubiläumskonzert „Gifts and Greetings“ zum vierzigsten Geburtstag des verdienstreichen und legendären Arditti Quartets. Dabei erschien sie eigentlich ganz charmant, die Idee von 14 Miniaturen unterschiedlicher Komponisten und Wegbegleiter der selbstregenerativen Arditti-Formation – darunter Wolfgang Rihm, Uri Caine, Brice Pauset, Brian Ferneyhough sowie Quartett-Neulinge Mark Andre und Jennifer Walshe. Die Umsetzung aber quälte mit einem nicht enden wollenden, unordentlichen Allerlei aus mal ernsthaft mal scherzhaft akronymisch gearbeiteten Werken, das von der schwurbeligen Konzertmoderation für Insider auch nicht gerade profitierte. Weder Spaß noch Vertiefung konnte sich an diesem Abend durchsetzen, und so zog die Ansammlung von Apercus wie Schnellzüge in Zeitlupe an einem vorbei. Gegen die dramaturgische Dauerflaute war selbst das spritzig scharfe Spiel von Irvine & Co. machtlos. Aber bekanntlich ist bei runden Geburtstagsparties das Potenzial zum Scheitern ohnehin beträchtlich und letztlich ohne Belang. Es war immerhin gut gemeint.
Giacinto Scelsi
Körperlichkeit ganz eigener Art erfährt man in der Musik Giacinto Scelsis. Ihr und ihren neusten Transkriptionen für Ensemble war in Witten ebenfalls ein Schwerpunkt gewidmet. Während Alexander Pelzel großzügig an Klangfarben- und Strukturmomenten auftrug, versenkte sich James Tenney vor allem in mikrotonal oszillierende Flächen, die mit zunehmender Definition der Saxophon-Linie sich der Kitschgrenze näherte. Und Tristan Murail zeigte sich erstaunlicherweise gerade hier von einer ruhigen, langatmigen, dabei aber ungewöhnlich nuancenarmen Seite. Am stärksten und reinsten aber wirkte das Eigenleben, das der skelettlose, fließende Ton in der mikroskopischen Betrachtung offenbart, in Scelsis eigener Ondiola-Aufnahme. Uli Fussenegger hat sie weitgehend naturbelassen und zur 30-minütigen schwebend-schwankenden Hommage „San Teodoro 8“ geremixed. Die gefährliche Gratwanderung von Martin Siewert (Lapsteel-Gitare), Uli Fussenegger (Kontrabass), Mike Svoboda (Posaune) und Ernesto Molinari (Kontrabassklarinette), die Organik dieses Klanglebens mit ihren nahtlos sich anschmiegenden Improvisationen und leicht dramatischen Kurven nicht zu stören, erzeugte mit fortschreitender Zeit eine intensivierte Form der Konzentration und der Wahrnehmung, als sei der eigene Atem mit dem wundersamen Atmen der Ondiola – und somit die Gegensätze Maschine und Körper – zur Einheit verschmolzen.