In viele Bereiche des Lebens kehrt schrittweise Normalität zurück. Fabriken und Friseursalons arbeiten wieder; Einzelhandel, Gastronomie, Schulen, Museen und Fitnessstudios haben wieder geöffnet. Doch wie steht es um Musik, Theater, Tanz? Deren Spielstätten bleiben bis auf weiteres geschlossen. Auch bei Festivals überwiegen noch Absagen: Die Bayreuther Festspiele fallen aus, die Salzburger Festspiele werden womöglich nur mit wenigen Restveranstaltungen stattfinden, die Darmstädter Ferienkurse und der Romanische Sommer Köln sind auf 2021 verschoben, die Produktionen der Münchener Biennale für neues Musiktheater werden an verschiedenen Orten durch die nächste Spielzeit mäandrieren, und das Beethovenfest Bonn und die BTHVN-Jubiläumsgesellschaft verlängern das Festjahr anlässlich des 250. Geburtstags des Komponisten bis September 2021.
Ob nach der Sommerpause allerdings die längst geplante neue Konzert- und Opernspielzeit wirklich beginnen kann, ist ebenso fraglich wie die Option, die in diesem Jahr ausfallenden Uraufführungen nächstes Jahr allesamt nachzuholen. Denn während der Corona-Pandemie entstehen ja weiter neue Stücke, Partituren, Projekte, Performances, die dann auch Premiere feiern wollen. Ein Uraufführungs-Stau ist unvermeidlich.
Dennoch: Nach über zweieinhalb Monaten Dürre ohne Live-Konzerte vor leibhaftig anwesendem Publikum keimt mancherorts wieder zartes Hoffnungsgrün. In den vergangenen Wochen spielten und sangen viele Ensembles, Musikerinnen und Musiker in menschenleeren Sälen, um wenigstens Audio- und Videomitschnitte im Internet zu streamen oder hochzuladen. Theoretisch erreichten sie damit ein weltweites Publikum, praktisch vor Ort jedoch niemand. Statt für gesichtslose, anonyme Massen zu spielen, deren Resonanz sich auf ein paar trockene Clicks, Likes oder Chats beschränkt, geht die Bonner Pianistin Susanne Kessel seit Mitte Mai den umgekehrten Weg. Im Saal des Klavierhauses Klavins in Bonn-Beuel gibt sie „Privatissimo“-Konzerte für kleinstmögliches Publikum, sprich für lediglich jeweils eine einzige Person oder für ein Paar oder maximal eine Familie. Dem Versammlungsverbot wird so Genüge geleistet und die Situation zugleich komplett verändert. Statt medial vermittelt oder technisch reproduziert und deswegen schnell beiläufig oder gar nebensächlich, ist eine solche Aufführung wieder hier und jetzt einmalig, unwiederholbar und direkt an ein bestimmtes Publikum gerichtet, das zwar äußerst klein ist, aber dafür zu umso größerer Aufmerksamkeit herausgefordert wird. Die Pianistin beglückt auf diese Weise ihr Mini-Auditorium und sich selbst, da sie endlich wieder ihrem zentralen Lebenssinn nachkommt, für andere Menschen Klavier zu spielen.
Zugleich erinnert ein solches 1:1-Format an längst überwundene Adelsprivilegien, als Fürsten und Könige ganz für sich allein von Musikern vorspielen oder neue Stücke komponieren ließen. Laut einer von Johann Nikolaus Forkel 1802 in Umlauf gebrachten, indes wohl nicht ganz zutreffenden Anekdote, wünschte sich zum Beispiel der russische Gesandte am Dresdner Hof Graf von Keyserlingk 1740 von keinem Geringeren als Johann Sebastian Bach eine Komposition für seinen begabten Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg, der ihm mit dreißig Variationen über eine Aria die schlaflosen Nächte versüßen sollte. So entstand tatsächlich großartige Musik. Ein weltweit einzigartiges Kompositions-, Konzert- und Editionsprojekt sind auch Susanne Kessels „250 piano pieces for Beethoven“. Seit 2013 lud die Pianistin Komponistinnen und Komponisten unterschiedlicher Generationen, Herkunft, Kultur und Stilistik ein, gleichsam als Geschenk zum 250. Geburtstag ein Klavierstück mit irgendeinem Bezug zu Beethoven zu schreiben. Nun erscheint demnächst der letzte Band im Londoner Verlag Editions Musica Ferrum. Alle zehn Bände bringen es nun sogar auf 260 Klavierstücke, also zehn mehr als ursprünglich geplant. Einige davon spielt Kessel auch in ihren Konzerten „Privatissimo“, natürlich abbandonatamentissimo!
Weitere Uraufführungen (unter Vorbehalt):
- 04.06.: Karl Gottfried Brunotte, „media vita“, eine radiophone Komposition, Institut für Sprachakustik, Bad Homburg
- 20.06.: Sven-Ingo Koch und Jan Wagner, Hörspiel „Mandeville. Vaudeville“, Live-Aufführung im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks Köln
- 26.06.: Volker Ignaz Schmidt, „asi\ts“ für Klavierduo Hayashizaki–Hagemann, musica nova Reutlingen