Um Werner Egks „Peer Gynt“, uraufgeführt 1938 an der Staatsoper in Berlin, ist es seit dem Tod des Komponisten im Jahre 1983 ziemlich still geworden. Das hängt mit der zumindest opportunistischen Rolle Egks im Dritten Reich zusammen. „Bis heute ist Werner Egks Schuldfrage nicht differenziert aufgearbeitet“, heißt es im Programmheft des Staatstheaters Cottbus, „aber muss aus diesem Grunde auf eine der auf hohem Niveau publikumswirksamsten Opern des 20. Jahrhunderts verzichtet werden?“
Die Entscheidung des Intendanten Martin Schüler, Egks „Peer Gynt“ in einer eigenen Inszenierung „von langjährigen Tabuisierungen [zu] befreien und mit Neugier und geschärftem Interesse […] auf die Bühne“ zu bringen, ist gelungen. Nachdem die zweite Aufführung wegen Erkrankung des Hauptdarstellers ausgefallen war, erntete die dritte, zu der auch eine Reihe von Besuchern aus dem Heimatland des Dichters angereist waren, im voll besetzten Staatstheater viel Zuspruch.
Martin Schülers Impuls, dieses Werk selbst zu inszenieren, geht zurück auf eine Produktion im Jahre 1977 in Leipzig, auf welche der damals Neunzehnjährige durch Harry Kupfer aufmerksam gemacht worden war. Auch mich begeisterte damals diese sehr fantasievolle Inszenierung Erhard Fischers, die ich anlässlich eines Gastspiels bei den Maifestspielen in Wiesbaden erlebte.
Der Cottbuser Hausherr hat die von Egk nach Ibsens Drama selbst zum Libretto verkürzte und um eine Gerichtsszene á la Brecht erweitere Handlung behutsam aktualisiert. Die in diatonischer Schlichtheit vertonte, dem Wagnerschen Frauenbild der Erlöserin entsprechende Solveig hat er zur modernen, kreativen Frau umgestaltet, die Peers Idee einer Liebesbude zu einem konkreten, kompletten roten Holzhaus erweitert. Als dieser endlich zu ihr heimkehrt, ist Solveig (schön intonierend, aber nicht sehr textsicher: Cornelia Zink) gerade damit beschäftigt, auch noch die Stühle rot zu streichen. So hat sie selbst rot gefärbte Hände, welche somit nun den von Anfang an roten, moralisch befleckten Händen der Titelfigur entsprechen.
Im blauen Einheitsbühnenraum mit integrierter Drehscheibe (Ausstattung: Gundula Martin) ist Peer auf hydraulischem Sockel das Zentrum seiner eigenen phantastischen Welt. Wenn die infantil überhöhten Trolle sich ins Bild schieben, flammt – in der Ambivalenz von Romantik und billigem Showbizz – ein Sternenhimmel im Hintergrund und rund um das Bühnenportal auf. Der Alte König der Trolle (Matthias Bleidorn) wächst in seinem Reich zu einer bühnenhohen Überfigur, unter deren Rock die Kinder des Trollreichs (Kinderchor, einstudiert von Norienne Januszewski) hervorkommen und ihre Hände zum Hitler-Gruß erheben, unter dem aber auch Peer und die Rothaarige kopulieren und ihren hässlichen Jungen (Ingo Witzke) zeugen.
Für die Barszene senkt sich aus dem Schnürboden eine Tabledance-Stange für eine Tänzerin (Inmaculada Marín López), von welcher die Darstellerin der Rothaarigen (Gesine Forberger) gedoubelt wird (Choreographie: Adriana Mortellit).
Andreas Jäpel in der Titelrolle des vor Selbstbewusstsein strotzenden Peer schmeißt sich mächtig ins Zeug, aber das permanent kraftvolle Dauermezzoforte fordert Tribut in den höheren Lagen dieser dramatischen Baritonpartie.
Die Altistin Marlene Lichtenberg bleibt in der Rolle der Mutter Aase als stimmlich und gestalterisch überzeugende Sängerdarstellerin im Gedächtnis, wie auch der imposante, profunde Bass von Jörn E. Werner in den Rollen als korrupter Präsident und als Unbekannter.
Der von Christian Möbius einstudierte Opernchor und das Philharmonische Orchester beweisen das hohe musikalische Niveau dieses Hauses. Generalmusikdirektor Evan Christ klittet die divergierenden Musikstile dieser Partitur zwischen seriöser Oper, sentimentaler Operette, Musical und Barmusik, zu einer Einheit, ohne dabei den redundanten Themen ab der zweiten Hälfte des zweiten Aktes die inhärente Ohrwurmabsicht nehmen zu können. Graben, Bühne und Auditorium vermag er mit seiner emotionsgeladen humorvollen, sprintenden Deutung der Partitur mitzureißen. Besonders eindrucksvoll geraten ihm die Trollszenen, in denen der Komponist damals verbotene amerikanische Tänze ebenso adaptiert hat, wie den Songspielstil von Kurt Weill. Während der Themenkopf von Offenbachs „Cancan“ als witziges Zitat eines ebenfalls zur Zeit der Komposition verfemten Komponisten angesehen werden kann, ist das penetrant wiederholte Thema der drei schwarzen Vögel, „Der Mensch lebt leider und vergeht“, als Eröffnungslied aus Bert Brechts „Mutter Courage“ bekannt.
Das Lied „Das Frühjahr kommt“ entstand jedoch erst 1939, also ein Jahr nach der Uraufführung des „Peer Gynt“ und wurde sogar erst 1946 von Paul Dessau niedergeschrieben, doch Brecht hatte in seiner Dichtung musikalisch auf seine „Ballade von den Seeräubern“ aus dem Jahre 1927 verwiesen, und er hatte dann auch von Dessau gefordert, die alte französische Soldatenweise „L’Etendard de la Pitié“ für die Vertonung des Liedes der Mutter Courage zu benutzen. Somit war Egk diese Weise vermutlich aus der Zeit seines Umgangs mit Brecht in den späten Zwanzigerjahren durchaus geläufig.
Im Fall Egk bleibt tatsächlich noch Vieles zu erforschen. Szenisch hat das Staatstheater Cottbus dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Weitere Aufführungen: 14. März, 8. April und 3. Mai 2014.