Nicht nur im Konzertsaal spielt die Musik. Mal ging es bei den Wittener Tagen – ganz à la Festival Rümlingen – mit einer Klangwanderung in die Natur, mal spielten Stücke auf einer Fähre oder in einer Straßenbahn, mal gab es Klanginstallationen in Kellergewölben.
Geht es um ortsbezogene Kunst, ist man beim Komponisten und Multimedia-Spezialisten Manos Tsangaris an der richtigen Adresse. Tsangaris’ bewährte Pointe ist das Spiel mit Innen und Außen. Und diesmal sieht es so aus: Innen, in einem fast rundherum verglasten Kiosk aus den 50er- oder 60er-Jahren, sitzt das Publikum, das beschallt wird von ein paar Instrumentalisten und Lautsprechern. Draußen bewegen sich in der Nähe einer Straßenkreuzung normale Passanten nebst obskuren Gestalten, die real sein mögen oder aber – wer weiß es schon? – von Tsangaris bestellt. Als „Kammerspiel“ bezeichnet Tsangaris seine Station. Aber mit Fug und Recht könnte sie auch „Hörkino“ heißen.
Aus der „Kunstsphäre“ kommen eine Sprecherin und ein Interviewer, deren Worte per Funk in den vollbelegten Kiosk gelangen. Feine Antennen hat Tsangaris. Die Musik darf nicht zu sehr im Vordergrund stehen. So sind es eher kleine atmosphärische Beigaben, die die Musiker spielen. Jene draußen flanierende Sprecherin sinniert währenddessen – von Hegel beeinflusst – über das Thema Fortschritt, während der Interviewer recht aufdringlich Wittener Passanten nach ihrem Musikgeschmack befragt. Rolling Stones seien eine „Macht“, sagt ein Passant. Und Karlheinz Stockhausen? Erwartungsgemäß unbekannt.
Was drinnen, in den Konzertsälen passiert, bleibt den Wittenern in der Regel verborgener. Schade drum! Denn was in diesem Jahr tönte, war hörenswert, teils sensationell gut. Herausragend das Konzert mit Werken von Mikel Urquiza, von Sasha J. Blondeau und von der Kroatin Sara Glojnaric. Urquiza vertont dänische Texte von Inger Christensen, indem er die Sopranistin in bezaubernd intime Duette verwickelt, entweder mit gestopfter Trompete, mit Klarinette oder mit Schlagwerk. Sasha J. Blondeau, 1986 im französischen Briançon geboren, entschied sich für eine körnig aufgeraute Klangstudie, während Glojnaric’ Ansatz eher rhythmischer Natur war. In witzig-kurzweiliger Manier bezieht sich die Komponistin zwar nicht auf die „Macht“ Rolling Stones, dafür aber auf Schlagzeug Intros der Rock-Gruppen The Police, Nirvana oder U2. Dass dieses etwa 50-minütige Konzert derart gut funktionierte, liegt zum Einen am abwechslungsreichen Programm, zum Anderen an den Interpreten. Sarah Maria Sun (Sopran), Marco Blaauw (Trompeten), Carl Rosman (Klarinetten) und Dirk Rothbrust (Schlagzeug) spielen atemberaubend. Begriffe wie „Variabilität“, „Klangsensibilität“ oder gar „Perfektion“ werden der unglaublichen Musikalität dieses Quartetts kaum gerecht.
Die Wittener Tage für Neue Kammermusik sind auf einem guten Weg. Manchmal glichen Wittener Konzerte schon mal Härtetests, wenn das Arditti String Quartet in überhitzten Sälen recht lang Ferneyhough spielte. In diesem Jahr kam weit mehr Lockerheit ins Spiel – nicht in Form eines bloß unkonzentrierten laissez faire mit multimedialem Gedöns, sondern in Form gekonnter Souveranität. Im Rahmen des Porträt-Schwerpunkts bewies Harry Vogt in den letzten Jahren schon sein Gespür für gute, interessante Komponisten. Nach Nicolaus A. Huber, Beat Furrer oder Dieter Ammann war nun der 1979 in Prag geborene Ondrej Adámek an der Reihe. Adámek nährt sich seinen anvisierten Themen sehr direkt. Lebendig, zugleich ausgesprochen informiert berichtet der sympathische Komponist von seinen Eindrücken vom japanischen Nô oder Bunraku Theater. Dort vorkommende Gesten und Handbewegungen integriert er gekonnt in sein Stück „Chamber Nôise“, das überzeugt durch seine unterschiedlichen energetischen Zustände, die durch Handbewegungen der Sängerin teils evoziert, teils untermalt werden. Das hat nichts Prätentiöses an sich, es wirkt, als habe sich Adámek vor Ort das Fremde wirklich einverleibt.
Seine „direttissima-Ästhetik“ spiegelt auch die Uraufführung des Stücks „Schlafen gut. Warm.“, mit drei szenisch agierenden Sängern und drei Schlagzeugern. Postkarten seines Großvaters dienen Adámek als Textbasis. Unmittelbar gehört wirken die Inhalte platt, teils auch plakativ umrankt von allerlei klingenden Objekten auf der Bühne. Tiefere Bedeutung jedoch erhalten die Texte durch die von Adámek betonte Herkunft. Sein Opa hatte die Postkarten nämlich im März 1945 aus dem KZ aus Theresienstadt an seine Kinder geschickt. Um eine Zensur zu umgehen, zugleich um keine Sorge zu bereiten, blieb er beim verstörend Positiven: „Sonntag gut angekommen. Essen und Schlafen gut. Warm. Seid unbesorgt.“
Adámeks Kammermusik wirkt frisch, immer wieder zupackend durch eine klare, energisch vorwärtstreibende Rhythmik. Einziger Wermutstropfen des diesjährigen Witten-Porträts ist das uraufgeführte Orchesterstück „Man Time Stone Time“. Vier Vokalsolisten singen Texte des isländischen Autors Sjón, während sie verschieden große Steine gegeneinander schlagen. Offenbar sah das Konzept vor, dass das WDR Sinfonieorchester „unterschiedliche Energieformen“ der Steine – quasi wie ein Resonanzraum – „verstärken“ solle. Was schon leicht anthroposophisch klingt, überzeugt auch klanglich wenig. Viel zu schnell erschöpfen sich die Orchesterbeigaben in stereotypen Glissandi, in manch geräuschhaften Ballungen oder punktuellen Clustern. Unfertig wirkt das alles, wie eine zu schnelle Arbeit infolge Zeitmangels. Von solchen entschuldbaren Alltagserscheinungen bleibt eines aber unberührt: Witten 2019 war in der Tat ein besonders gelungener, dabei auch sehr angenehmer Jahrgang.