Keine lokalen Musikszenen, keine spektakulären Auftragswerke, keine das eigene Tun infrage stellende Podiumsdiskussion – in seinem zehnten Jahr zeigte sich Ultraschall mehr denn je auf seinen Wesenskern konzentriert. Stets stand nicht der Uraufführungsgedanke, die Entdeckung des unerhört Neuen, im Vordergrund, sondern die „gute“ Musik unserer Gegenwart – der bewährte, in neuem Zusammenhang zu erfahrende Klassiker oder das unverdient unbekannt gebliebene Stück.
Mit der Gegenüberstellung zweier großer Persönlichkeiten konnte das Festival sein Profil schärfen: Giacinto Scelsi und Karlheinz Stockhausen, gleichermaßen als Genien verehrt und als Dilettanten verteufelt, einander verwandt im universellen, esoterischen Anspruch und doch im Klangergebnis kaum unterschiedlicher denkbar. Scelsis zwanzigsten Todestages war zu gedenken, doch durch seinen unerwarteten Tod im vergangenen Dezember galt Stockhausen besondere Aufmerksamkeit. Der ganze letzte Festivaltag war ihm gewidmet – die Inspiration dazu holte sich Programmmacherin Margarete Zander allerdings noch zu Lebzeiten des Meisters bei einem Besuch der Kürtener Kurse. So wurde „Ein Tag mit Karlheinz Stockhausen“ zur teils bewegend-aufklärenden, teils kurios-verklärenden Gedenkveranstaltung. Überwältigend der Eindruck der frühen Werke, nahegebracht durch den Film „Momente“ von Gérard Patris aus dem Jahre 1965. Im Vortrag von Rudolf Frisius über das eigentümliche Zusammenwirken von Rätselhaftigkeit und Erklärbarkeit in Stockhausens Werk wurden seine elektronischen Pioniertaten nachvollziehbar, die sich vom punktuellen Klangereignis in den Raum erweiterten – von der Stunde Null im Kölner Studio, wo nach dem Kriegsdesaster die Klänge selbst hergestellt werden mussten, um ihrer radikalen Reinheit im Sinne von Fremdheit und Inhaltslosigkeit sicher sein zu können, über die Bekanntes zur Unkenntlichkeit verfremdenden „Hymnen“, den Esoterisches wiedergebenden „Sirius“ bis zum letzten Werk „Cosmic Pulses“. Sicher kann man bei den übereinander geschichteten, durchweg lärmenden 24 Tonspuren von „ungeheurer Energie“ sprechen, die nach Auskunft des Meisters bereits junge Leute von den Sitzen gerissen haben soll. Doch was ambitioniert beginnt, erschöpft sich letztlich als banale, seltsam antiquiert anmutende Nachbildung von Motorengeräuschen. Hinter seine eigenen Errungenschaften zurück fällt Stockhausen auch in „Komet“ für einen Schlagzeuger und Elektronik (1994), ganz zu schweigen von „Freude“, purem Sakralkitsch für zwei weißgewandete, engelhaft singende und synchron sprechende Harfenistinnen – da fehlten eigentlich nur die Flügel. Wie „Freude“ (2. Stunde) gehört auch das Klavierstück „Natürliche Dauern“ (3. Stunde) zum letzten unvollendeten Zyklus „Klang“, der analog zu „Licht“ die vierundzwanzig Stunden des Tages darstellen sollte. Doch neben den frühen Klavierstücken, fulminant gespielt von Frank Gutschmidt und Benjamin Kobler, konnte auch dieses im Tonmaterial reduzierte Werk vor allem mit seinen kaum wahrnehmbaren Obertonklängen nicht überzeugen.
Rätselhaft, widersprüchlich blieb auch die Figur Giacinto Scelsis – hier bestachen ebenso die „Quattro pezzi su una nota sola“ als fantasievoll-strenge Studie immer neuer Schattierungen des Einklangs und das improvisatorisch freie Cellokonzert „Ballata“ mit der charismatischen Frances Marie Uitti, wie auch die Streichquartette längst zum eisernen Bestand der Gattung gehören. Doch in der „Scelsi-Nacht“ prallten etwa die ausgereifte Atonalität der „Tre canti sacri“ auf die Beliebigkeit des langen Flötensolos „Tetraktys“, und auch das frühe Klavierstück „Rotativa“ verliert seine Dünnblütigkeit nicht dadurch, dass ein Nicolas Hodges es spielt. Um vieles facettenreicher, nuancierter, vielgestaltiger im selben Klavierabend das Klavierstück „Voices abandonadas“ von Walter Zimmermann, das seine Form von wiederkehrenden Begriffen aus 514 Sentenzen des gleichnamigen Buches von Antonio Porchia bezieht.
Hochqualifizierte Interpreten wie Hodges sind mittlerweile das große Plus von Ultraschall. Sie sind in der Lage, dem immer zahlreicher erscheinenden Publikum die unvertrauten Klänge lebendig und schlüssig aufzubereiten, die Qualitäten der Werke buchstäblich aufzuschließen und neue, eigene Aspekte zu entdecken. Ein Werk wie „Mantra“ gewinnt in der Wiedergabe durch das Klavierduo Grau/Schumacher ganz andere Dimensionen als zu spröden, eher das Strukturelle als das Klangliche betonenden Uraufführungszeiten. Durch ein Festival wie Ultraschall entsteht etwas, was die Neue Musik bisher nie hatte: Aufführungstradition. Ein Konzert wie das des Arditti-Quartetts mit den Neuen Vokalsolisten ist ein prallsinnliches Erlebnis von Virtuosität, in dem etwa Lucia Ronchettis „Hombre des mucha gravedad“ zur komplexen dramatischen Szene wird, voll Witz und Vitalität. Sicher, der Abstand zur traditionellen Szene wird dadurch kleiner, ein gewisser Unterhaltungscharaker verstärkt oder auch erst generiert. Aber ging nicht auch große Musik vergangener Zeiten diesen Weg? Der jungen Sopranistin Caroline Melzer etwa gelang es, Aribert Reimanns Vertonung von Goethes „Die Liebende abermals“ gegen Mendelssohns „Die Liebende schreibt“ als nuanciert-spannungsreiche Textauslotung zu behaupten, die Eigensprachlichkeit von Isabel Mundry, Claude Vivier und Elliott Carter klar abzugrenzen. Carolin Widman glänzte als Solistin von Iannis Xenakis‘ Violinkonzert „Dox-Orkh“, ein Kampf des Glissandos gegen strenge rhythmische Einteilungen, während im gleichen Konzert des von Brad Lubman geleiteten Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin die Uraufführung „Schattengitter“ von André Werner bei aller Akribie gitterförmig versetzter Klangraster – schattenhaft, nicht recht fassbar blieb. Furore machte auch Matthias Pintscher am Pult desselben Klangkörpers, weniger als Dirigent des eigenen etwas blassen Flötenkonzertes „Trans Ir“ denn als feinsinniger, zarte, sich schnell zurückziehende Andeutungen zum großen Bogen zusammenfügender Nachdichter von Marc Andrés „…auf…“. Während Xenakis schon als Ultraschall-Stammgast bezeichnet werden kann, widmete sich das Festival diesmal auch seinem unbekannteren, 1970 verstorbenen Landsmann Jani Christou. Während „Phoenix Music“ (1949) durch Klangschönheit besticht, aber seine zukunftsträchtigsten Momente vielleicht in gewissen Archaismen aufweist, ist „Anparastasis III“ für Schauspieler, Ensemble und Tonband eine leicht pubertäre 68er-Provokation: Zum antiquiert röchelnden Tonband darf der Dirigent Roland Kluttig schon mal die große Trommel umarmen, während sich das Kammerensemble Neue Musik Berlin sich in Schrei- und Schlagorgien entlädt. Ungleich nachdrücklicher gestalteten diese Musiker mit dem Sänger Frank Wörner „ME.A.AN“ von Pierluigi Billone, eine hochsensible Angleichung – und wiederum Abgrenzung – klagender Stimm- und Instrumentallaute, vom Klang ins Geräusch hinein.
Die „Neuentdeckungen“ fügten sich dieser die Moderne mit der Tradition zusammenfügenden Sichtweise ein: Weit weniger spektakulär als etwa seine „Vorgänger“ Jennifer Walshe oder Clemens Gadenstätter präsentierte sich der DAAD-Stipendiat Chenbi An. Der 40-jährige Chinese zeigt in seinem Orchesterwerk „Ressac“, dass er dem großen Klangapparat effektvolle Farben abzugewinnen vermag – doch von dieser Art auftrumpfender Opulenz haben wir vielleicht doch schon zuviel. Weit eigenständiger die Trägerinnen des von Aribert Reimann und der Akademie der Künste vergebenen Busoni-Preises: „Über die Verfertigung der Gedanken beim Reden“ sinniert die Koreanerin Eun-Hwa Cho für Violine solo mit untrüglichem Proportionsgefühl innerhalb frei schwingender, filigraner Abläufe; ihren „Lauf“ für neun Musiker „ vollzieht die Kanadierin Annesley Black als eigentümliche Synthese von Kontrolle und untergründiger Phantasie. Ihre Aussage: „Ich weiß, wo ich herkomme und deshalb weiß ich, wo ich hingehe,“ könnte durchaus zum Motto des an einer Tradition der Moderne bauenden Festivals „Ultraschall“ werden.