Das ist selten und spricht umso mehr für den Erfolg einer Musiktheaterproduktion, wenn diese einen deprimierenden Inhalt hat, aber zu einem rauschenden Erfolg wird. Am Tag vor der Uraufführung hatte es in Berlin geschneit. Und Nachrichten aus Bayern sprechen von Schneelawinen und eingeschlossenen Menschen. Der Zeitpunkt für die Uraufführung von Beat Furrers einaktiger Oper „Violetter Schnee“ war somit von der Staatsoper Unter den Linden zufällig richtig gewählt. Fünf Menschen, eingeschlossen wie in Jean-Paul Sartres „Die geschlossene Gesellschaft“, erleben wie die Insassen von „Solaris“ ein Naturphänomen vor dem Exitus.
Pieter Breughels d. Ä. Gemälde „Jäger im Schnee“ aus dem Jahre 1565 zeigt die kleine Eiszeit in vorwiegend heiterer Bewältigung mit Arbeit und Vergnügen, auf den zweiten Blick aber auch mit Katastrophen und Zeichen, die von Exegeten als Endzeitstimmung gedeutet werden konnten. Der Librettist Händl Klaus hat das Gemälde in einer Bildbeschreibung, bei der man durchaus an Heiner Müllers gleichnamiges Stück denken kann, als eine negative, dräuende Untergangsvision gedeutet. Regisseur Claus Guth wählt als Ausgangsraum das kunsthistorische Museum in Wien, rund um jenes Gemälde und mit diversen Besuchern, darunter der Schauspielerin Martina Gedeck als Tanja. Diese rezitiert, während das Bild auf dem Portal-Gazeschleier in Ausschnitten vergrößert und bisweilen unscharf gezogen projiziert wird, die Bildbeschreibung stilisiert – ein häufig abgehacktes, in Silben zerlegtes Melodram.
Mit Glissandi aufwärts, aus der Unschärfe in die Schärfe der Klänge der Staatskapelle Berlin aus dem Orchestergraben, folgen Bühnenbildnerin Étienne Pluss und Videokünstler Arian Andiel den Strukturen von Beat Furrers Komposition, die mit solistischen Holz- und Blechbläsern inklusive Tuba, klein besetzten Streichern, Harfe und einem Schlagzeuger auskommt.
Leise Töne herrschen im dicht gefügten, dem Bild des Schnees entsprechenden Orchestersatz mit Obertönen der Stille. Etwa in der Mitte der pausenlosen Oper dann ein anschwellender Ton. Eindrucksvoll das Solo eines (Schnee-)Besens auf dem Tamtam.
Auch die Melodram-Behandlung ist dem Komponisten, insbesondere beim Wiederaufgreifen von Teilen der Bildbeschreibung in den Szenen der Oper, gut gelungen. Mit fließenden Übergängen vom instrumentalen zum sprechenden Singen und einem in immer stärker zersplitterter Klanggestaltung anwachsendem Knirschen des Gedankengebäudes – und vielleicht auch des Schnees – entsteht ein bezwingender Drive, hin zu einem apokalyptischen Szenario. Doch stattdessen verblüfft ein offenes Ende.
Impulsive, schwebende Klänge im Zwischenspiel zwischen Prolog und den nachfolgenden 34 Szenen, während Tanja durch die Winterlandschaft der an ihr vorbeiziehenden Projektion läuft und sich dann wie tot niederlegt vor die Stufe einer aus der Versenkung emporfahrenden, winterlichen Feriendomizil-Wohnstube mit offenem Kamin. Ein Tisch wird verheizt und die Damen Natascha (Elsa Dreisig) und Silvia (Anna Prohaska) demonstrieren die unter den fünf Bewohnern bereits angewachsene Hysterie der vom Schnee Eingeschlossenen mit einem überdrehten Duett der Teetrinkerinnen. Dem folgt ein Sprechkanon der versammelten Zweckgemeinschaft.
Dann aber zeigt die Inszenierung, dass die beiden Frauen und die drei Männer Jan (Gyula Orendt), Peter (Georg Nigl) und Jaques (Otto Katzameier) keineswegs klaustrophobisch eingeschlossen und allein sind. Denn in drei Treppenhäusern, die ziemlich steil aufwärts auf einen Platz führen, passieren sie andere Individuen. Und auch der Platz mit weiteren Menschen ist keineswegs verschneit; nur als Projektion rieselt auf der Häuserrückwand leise der Schnee. Dafür schieben sich in Zeitlupe die aus Breughels Bild wiedererkennbaren Figuren von links nach rechts in Schnabelschuhen (Kostüme: Ursula Kudrna) langsam über die Szene. Zwei der fünf neben einer umfangreichen Komparserie eingesetzten Tänzer*innen queren später als heitere Schlittschuhläuferinnen. Differenzierte Tempi der Bewegung heutiger und der immer größer werdenden, sie umgebenden Gesellschaft aus dem Mittelalter sind reizvoll anzusehen. Die Überlagerung der Zeiten erinnert an dieselbe Idee bei Tankred Dorst, in dessen unsäglicher Bayreuther „Ring“-Inszenierung, die sicherlich auch Klaus Guth gesehen hat, da dessen Inszenierung des „Fliegenden Holländer“ damals ebenfalls auf dem Programm stand und der sich dabei möglicherweise überlegt hat, wie sich dieser Effekt optimieren ließe. Die breit gefächerte Komparserie als Darsteller einer mittelalterlichen und neuzeitlichen Gesellschaft, inklusive dem Einsatz von vier Kindern, schwächt jedoch erheblich den von den Autoren initiierten Eindruck der zu den fünf Protagonisten hinzutretenden, untoten Tanja, die Jacques für seine wiedergekehrte Frau hält (wobei Korngolds „Die tote Stadt“ grüßen lässt).
Wiederholt noch wechselt das Bild zwischen unten und oben, auch das Treppenhaus wird als Spiel- und Gesangsraum genutzt. Ein Leuchtrahmen, der das Portal umgibt und flackernde Lichter auf der Szene bemühen sich bisweilen, Akzente des Orchesterflusses zu bebildern.
Im Endspiel-Gedächtnis bleibt Else Dreisig mit einer separierbaren, irren Traumerzählung der Natascha über einer Viola, die durch eine sich in ihr aufblähende Hornisse zerbirst. Dass Natascha sich, trotz der besungenen Kälte, bis auf den Unterrock auszieht und die letzten Szenen in diesem agiert, mag als ein weiterer Hinweis auf anwachsende Verrücktheit gedeutet werden. Hierzu zählt auch eine Birthday-Party (auch da sei der Verweis auf Harold Pinters Stück gestattet) im Inneren, bevor es zum eigentlichen Showdown auf dem offenen Platz mit der einsamen Straßenbeleuchtung kommt. Dort wird die vordem strikt eingehaltene Bewegung mittelalterlicher Menschen von links nach rechts nun umgekehrt. Ein gemischter Chor, das Vokalconsort Berlin, ist mit einem lateinisch gesungenen Text von Lukrez nun zu vernehmen, während dessen Mitwirkung im Prolog bestenfalls zu ahnen war.Nach dezentem Schneefall auf der Szene gewinnt dieser dann in der Projektion auf dem Gazeschleier an Fahrt.
Ein Liebeslied an den Mars ertönt aus den Mündern der Protagonisten und des Chores in der etwas redundant geratenen Finalszene. Aufgrund meines Randplatzes kann ich das Ende nur vom Hörensagen weitergeben: eine gelbe Sonnenscheibe mit kontrastierender Rot-Trübung führt im Mittelgrund zur Ahnung eines lange erwarteten Violett, als Einfrieren und Verglühen.
Die Koppelung von zwei führenden zeitgenössischen Komponisten, dem hier als Dirigent eingesetzten, voll überzeugenden Matthias Pintscher, gemeinsam mit dem Komponisten Beat Furrer, führte zu einem musikalisch runden Ergebnis. Nicht verwunderlich, dass an diesem Abend eine Reihe lebender Komponisten-Kollegen auch im Publikum zugegen waren, unter ihnen Detlev Glanert, der mit seiner Oper „Solaris“ bereits 2012 jenen Stoff komponiert hat, dem metaphorisch auch das Autorenteam Händl Klaus und Beat Furrer, gefolgt ist: dem Roman von Stanislaw Lem, beziehungsweise Andrei Tarkowskis gleichnamigem Film von 1972. Händl und Furrer lieben die Gegensätze von Heiß und Kalt und hatten ihrem Endzeit-Schnee-Vision eine gemeinsame „Wüstenbuch“-Oper vorausgehen lassen.
Die in Furrers Partitur strukturalistisch gebotene Gesangsentwicklung mit immer kleineren Intervallen wurde vom trefflich besetzten Ensemble exzellent umgesetzt: neben der bereits hervorgehobenen Elsa Dreisig und der im Musikfluss sicher integrierten Schauspielerin Martina Gedeck, die im Spiel häufig zum Rauchen verurteilte klangschön singende Anna Prohaska sowie von den für zeitgenössische Musik prädestinierten und schon wiederholt in der Staatsoper Unter den Linden bewährten Sängerdarstellern Otto Katzmeier und Georg Nigl, wie auch von Gyula Orendt.
Nach so viel besungener Ausweg- und Hoffnungslosigkeit dann herzhaftes Lachen der Protagonisten beim einhellig positiven Applaus, in den sich erneut und crescendierend die bereits sofort nach dem Schlussakkord erklungenen Bravorufe mischten.
- Weitere Aufführungen: 16., 24., 26. und 31. Januar 2019.