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Marionettenspiel mit Franz Schubert und Salvatore Sciarrino. Foto: Pachl
Marionettenspiel mit Franz Schubert und Salvatore Sciarrino. Foto: Pachl
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Mondlose Welt ohne Sonnenuntergänge – Uraufführung von Salvatore Sciarrinos „L'imprecisa macchina del tempo“

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Der 1947 geborene italienische Komponist Salvatore Sciarrino hat das Glück, dass in dieser Saison in Berlin sein Werk ganz besonders fokussiert wird: Am 14. Juni bringt die Staatsoper seine Oper „Lohengrin“ und bereits eine Woche später inszeniert Jürgen Flimm die Uraufführung von Sciarrinos „Macbeth“. Und im Vorfeld wurde im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie mit großem Publikumszuspruch „L'imprecisa macchina del tempo“ uraufgeführt, ein durch die Ernst von Siemens Musikstiftung finanzierter, gemeinsamer Kompositionsauftrag von RIAS Kammerchor und Münchener Kammerorchester.

Einen ganz neuartigen, ungewöhnlichen Weg der Konzert-Einführung realisierte der Wahlpflichtkurs des Werner-von Siemens-Gymnasiums: im Foyer der Philharmonie brachte die Klassenstufe zehn ein Marionettenspiel mit Franz Schubert und Salvatore Sciarrino zur Aufführung, in dessen Verlauf die beiden Komponisten sich über ihre im Sinfoniekonzert dargebotenen Werke austauschen und plaudernd freimütig ihre Philosophie und kompositorischen Denkansätze vermitteln.

Die Zeitmaschine hakt

Sciarrinos „L'imprecisa macchina del tempo“ – die unpräzise Zeitmaschine – nimmt Bezug auf den auch verfilmten Roman „Die Zeitmaschine“ von Herbert George Wells aus dem Jahre 1895. Der Pionier der Science-Fiction-Literatur war zugleich ein Menschenrechtler und Pessimist, der die zukünftigen Folgen militärischer Entwicklungen voraussah. Dies ist es offenbar, was den Komponisten an der Vorlage gereizt hat, denn auch Sciarrinos Zeitmaschine hakt erbärmlich. Der diesem Komponisten eigene, aphoristische Stil löst sich für die programmatische Vorlage im höheren Sinne ein.

Bereits Franz Schreker hatte über die „Musik der Stille“ als dem besonders Erstebenswerten philosophiert. Sciarrino kommt ihm nahe, wenn er sagt: „Die Stille ist der Hintergrund. Das Nichts existiert schon deshalb nicht, weil wir Ohren brauchen, um es zu erleben, es ist ein Wahrnehmungsphänomen. Die Stille ist eine Aufforderung, besser zuzuhören – auch sich selber.“

Mit dem klassischen Instrumentarium erzeugt Sciarrino eine elektronisch anmutende Maschinen-Musik. Hohe Streicher und zwei Flöten stellen mit ihren Instrumenten eine Geräuschebene her, die an die Erzeugung ungewöhnlicher Klänge bei Lachenmann gemahnt. Wie ein fernes Rauschen mischen sich das Donnerblech und Wortfetzen der Herren hinzu. Die stammelnde Vokalkraft wirkt wie das vergebliche Sich-Aufstemmen einer Walze gegen Widerstände und Fremdkörper. Die singenden Sprechversuche bleiben allesamt Seufzer, auch wenn der Damenchor des äußerst präzise abgestimmten RIAS Kammerchors miteinsetzt, bleibt es beim Wehklagen, aus dem sich nur sehr langsam und mühevoll der konkrete (italienische) Text schält, ein Zitat von Etienne-Louis Boullée, dem französischen visionären Architekten des späten 18. Jahrhunderts über die Zuschauer als dem „grundlegenden Ornament“ eines Raumes.

Mit einem einsamen Pizzicato der Bratsche beginnt der zweite von drei Abschnitten oder Zeiten, „Tempi“ genannt. Er stellt „fast universell akzeptierte Ideen“ in Frage, erklärt die Schul-Geometrie als eine „falsche Voraussetzung“.

Eine neue Region, fern der bisherigen Raumstruktur, „wo die Sonne nicht mehr unterging“, erreicht der abschließende dritte Teil, „vom Mond keine Spur“.

Extreme Wechsel sehr kurzer und sehr langer Töne vom Pianopianissimo bis Fortefortissimo. Wie Nano-Technologie fragmentiert Sciarrino seine Einfälle, zerlegt sie in kleinste Teile. Nun Glissandi, aufsteigende Motivketten, dann abstürzende Intervalle, schließlich die Antithese eines aufsteigenden, am Ende im Pianisissimo verhallenden, dreimaligen „nessuna traccia“ („keine Spur“). Auch damit schlägt der italienische Musikdramatiker (unbewusst?) den Bogen zu Franz Schreker und dessen chorischer „banger Frage“ am Ende der Oper „Der singende Teufel“, der Handlung über die Zerstörung einer Weltfriedens-Orgel als der einer anderen Raum-Zeit-Maschine.

Der RIAS Kammerchor und das Münchener Kammerorchester exerzieren die flüchtigen, gläsernen Klanggebilde, die zirkulierenden und sich dabei doch ständig verändernden Tonballungen, und Dirigent Alexander Liebreich setzt die in der Partitur verklausulierten Anweisungen des Komponisten zwingend um, seziert die Fehlfunktionen der Zeitmaschine als Erkenntnisprozess auf dem Wege zu einer höheren Qualität.

Dass für die Interpretation des 5. Abonnementkonzerts der Reihe „Zeit. Geist“ optimale Interpreten gewählt wurden, bewiesen Liebreich, das Münchener Kammerorchester, der RIAS Kammerchor mit seiner Solistin im Chor, sowie die für den zweiten Teil des Abends hinzu tretenden fünf namhaften Solisten. (Dass im zweiten Teil einige Einsätze auf vokaler und orchestraler Ebene nicht ganz zusammen waren, gehört zu den kleinen „Schönheitsfehlern“ einer Live-Darbietung.)

Das 34-minütige Zentralstück des Konzerts wurde eingerahmt von zwei Werken Franz Schuberts, der hier aufgrund seines unkonventionellen Textumgangs zu einem Geistesverwandten Sciarrinos erklärt wurde.

In Schuberts vierter Version des „Gesang der Geister über den Wassern“, D 714 für acht Männerstimmen, Bratschen, Celli und Kontrabässe – hier zu erleben mit 18 Herren des RIAS Kammerchors und 12 Streichern des Münchener Kammerorchesters – erhebt der Komponist Goethes Verse zu einer Metareligion, und mit seiner letzten Messe D 950 gibt er der Ordo Missae durch Textwiederholungen und Auslassungen – etwas des Bekenntnisses zur katholischen Kirche im Credo – einen neuen, freidenkerischen Sinn. Das Wichtigste scheint Schubert dabei die Rolle des Opferlamms gewesen zu sein, als eine göttliche Parallele zu seinem eigenen Leiden, denn bereits im Gloria besingt er besonders ausladend das Agnus Dei. Äußerst preziös gebärden sich in dieser Messe in Es-Dur die auf nur zwei Momente reduzierten Einsätze des Solistenquartetts, und von einer geradezu überteuren Schönheit ist der Einsatz von zwei Tenören und Sopran im Satz „Et incarnatus est“ – vermutlich auch die Hauptursache dafür, dass Schuberts 6. Messe so selten zu hören ist. Denn wer engagiert schon zwei Spitzentenöre für circa drei Minuten? Hier waren es Vater und Sohn, Christoph und Julian Prégardien und – quasi als hinzu tretender, und die Reprise anführender heiliger Geist – dann die als Sopranistin eingesprungene Susanne Bernhard von berückend reiner Schönheit.

Das von Deutschlandradio live übertragene Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie war nur zu etwa zwei Dritteln besetzt. Aber die Begeisterung des Auditoriums, in dem Staatsopern-Intendant Jürgen Flimm nicht fehlte, der ungeteilte Zuspruch für den anwesenden Komponisten und die Ovationen für die Ausführenden waren durchaus massiv.

Weitere Aufführungen: 9. April 2014 Stadthalle Aschaffenburg, 10. April 2014 Prinzregententheater München.

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