So richtig in Gang kommen wollte das Ganze zunächst mal nicht. Zwar versuchte die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen in ihrer neuen Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts geheimnisvollen Spätwerk „La Clemenza di Tito“ an der Staatsoper Hamburg in der Ouvertüre mit Schwung ein sorgloses Partyleben des zukünftigen Kaisers Titus aufzuzeigen: da tanzt und schmust er mit seiner großen Liebe Berenice. Doch einzuordnen war das nicht – zumindest nicht als Perspektive, wie „La Clemenza“ in ihrer Doppelbödigkeit oder der Kehrseite der Macht dem Publikum gezeigt werden soll.
Mozarts letzte Oper an der Staatsoper Hamburg: die Ambivalenz der „Clemenza“
Auch das erste Bild erschien eher spröde: Ein schwarzer großer Raum (Bühne von Ben Baur), schwarz angezogene Chormitglieder und zeitgemäße Klamotten (das Original spielt um 70 n. Chr.) suggerieren ein irgendwie politisches Büro, in dem Titus der Chef ist. Anfänglich nur mühsam und mit unübersehbaren Längen schälen sich die seelischen Konflikte heraus, um die es der Regisseurin im Laufe der Inszenierung zunehmend zielstrebiger geht – immer größere Einsamkeit und Verlassenheit aller, zuletzt der drei ProtagonistInnen: Titus weiß nicht mehr, wen er eigentlich umbringen soll – den ehemaligen Freund und Attentäter Sesto, all seine MitarbeiterInnen oder besser doch sich selbst; Sesto kommt mit seiner Schuld nicht klar; und Vitellia als Anstifterin des Kapitol-Brandes geht anspruchslos und freiwillig zurück in die Einsamkeit.
Die Ideen dazu holt sich die Regisseurin aus der Musik. Die langen ohnehin von Mozarts Schüler Süßmayr komponierten Rezitative lässt sie weg und konzentriert sich auf die einzigartige Klarheit und Schönheit von Mozarts Musik. Die insofern alles andere als rätselhaft ist, als der Komponist für das Auftragswerk für die Krönung Leopold II. in Prag zur längst von ihm selbst überholten Form der „oper seria“ greift. Dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg gelang unter der präzisen und ungemein inspirierten Leitung von Adam Fischer ein Juwel nach dem anderen. In diesem Sinne erklang die „torna“-Arie von Sestos Freund Annio gesungen von dem Countertenor Kangmin Justin Kim schlicht ergreifend. Die hochdramatische Selbsterkenntnis der Vitellia durch Tara Erraught gelang nach einem eher beliebigen Anfang zunehmend intensiver und existentieller – auch mit bewusst eingesetzten Schärfen in der Stimme. Höhepunkte der Titus-Musik sind zweifelsohne die beiden Bassklarinetten- und Bassethorn-Arien von Sesto und Vitellia zu nennen. Michèle Losier lässt als Sesto keine Wünsche offen: Sowohl ihr Spiel, als auch das Klangfarbenreichtum ihrer Stimme überzeugen vollends. Und Bernard Richter zeigt als stimmstarker Titus immer schärfer die Ambivalenz und Zerrissenheit seiner Rolle.
Mit den einzelnen seelischen Konflikten entwickelt Mijnssen einen ganz anderen Ansatz als kürzlich Marco Štorman in Bremen, der herausgearbeitet hat, welche Machtmissbrauch-Geschichte die Clemenza auch ist. Mozarts Musik verträgt so vollkommen unterschiedliche Lesarten und beweist auch damit ihre unfassbare Qualität, die weit darüber hinausgeht, warum Mozart nach den da Ponte-Opern noch einmal im Stil der „opera seria“ schreibt. Er experimentiert eher mit der „Seria“. Auf die hier rezensierte sechste Aufführung folgt anhaltender und herzlicher Beifall.
Die nächsten Aufführungen liegen in der nächsten Spielzeit am 16., 20., 22. und 26. Oktober in der Staatsoper Hamburg.
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