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Aribert Reimann: Lear. Premiere am 23. Mai 2021 im Nationaltheater. Musikalische Leitung: Jukka-Pekka Saraste. Inszenierung: Christoph Marthaler. Foto: © Wilfried Hösl
Aribert Reimann: Lear. Premiere am 23. Mai 2021 im Nationaltheater. Musikalische Leitung: Jukka-Pekka Saraste. Inszenierung: Christoph Marthaler. Foto: © Wilfried Hösl
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Museum ohne Abgrund – Aribert Reimanns „Lear“ kehrt ins Nationaltheater München zurück

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„Die Geschichte ist ein Schlachthaus“ hat Heiner Müller lapidar festgestellt. Damit knüpfte er an Thomas Hobbes an, der rund vierhundert Jahre zuvor schon den „Menschen als des Menschen Wolf“ charakterisierte, als Engländer, dessen Königsgeschichte einem Schlachthaus gleicht. Shakespeares „König Lear“ greift da auf den mythisch nebeligen Anfang zurück. Die Vertonung des blutigen Dramas bildete im Juli 1978 den Höhepunkt der Münchner Opernfestspiele.

Jetzt eine echte „Pandemie-Premiere“: ein höchst effizientes Schnelltest-Zelt hinter dem Theater; rund 700 getestete oder geimpfte oder genesene Besucher, auf verschiedene Eingänge verteilt und von zahlreichem Hauspersonal freundlich auf Abstand gehalten und verteilt im 2100-Plätze-Haus; Blechbläser und Schlagwerk werden aus dem Bruno-Walter-Saal zugespielt; der Chor singt auf der großen Probebühne; zwei Unterdirigenten haben sich nach der Zeichengebung von Jukka-Pekka Saraste im Orchestergraben zu richten, wo das übrige Bayerische Staatsorchester sitzt. All das kann die Staatsoper.

Verwöhnte Ohren könnten anführen, dass das große, enorm vielfältig und sehr oft „Fortissimo“ geforderte Schlagwerk via Lautsprecher „doch nicht so wie im Saal“… Aber die Gesamtleistung von Saraste, Solisten, Chor und Orchester blieb unter seiner klaren Zeichengebung bei der von Aribert Reimann komponierten Mischung aus „Cluster-Wucht, Kante, 12-Ton-Dissonanz, Bruch, Toben und Tosen“. Und da stellte sich besonders im 1. Teil auch der Eindruck „monochromer Stimmung“, von „wildem Klanggetöse von Gestern“ ein: Sollte die wahrhaft liebende Cordelia nicht ganz anders klingen? Könnte der sich in gespieltem Wahnsinn durch den Mordrausch rettende Edgar nicht andere Musik haben? Das wog der etwas klang-mildere 2. Teil nicht auf.

Nach allem wüsten Getöne wirkte das zu Lears Klage um die tote Cordelia von den tiefen Streichern intonierte Lamento, eine fast Mahlersche Schmerzensmelodie, auch bei Saraste herb und streng. Ja, Machtversessenheit und Mordlust, Altersstarrheit bis zur Blindheit sind seit 1978 nicht weniger geworden, doch wären heute aalglatte Abgefeimtheit und raffinierte Kaltblütigkeit als Klangkonstraste nicht treffender?

Am „Schlachthaus“ um die Nachfolge König Lears mit mindestens sieben toten Hauptfiguren interessierte Alt-Regisseur Christoph Marthaler, der inzwischen Joachim Rathke als Mit-Regisseur braucht, „das Familiäre“. Warum das übrige Inszenierungsteam, voran Bühnenbildnerin Anne Viebrock die Handlung in die recht bescheidene Schmetterlingssammlung eines heutigen Museums verlegte, erschloss sich nicht. In dem hellen, hohen Saal konnte der Wächter einen großen Glasschrank auch hin und her schieben, um das Trinkgelage des Chores hereintönen zu lassen und fuhr dann per Rollwagen die Bierkästen davon; mal saßen die Hauptfiguren in den Vitrinen, mal gingen sie nach hinten ab, mal fuhren sie mit dem elektrischen Lift auf eine Galerie hoch, um dort durch eine niedrige Tür gebückt abzutreten; die ein oder andere der strittigen Figuren konnte auch mal per Gurt an der Wand festgeschnallt werden; der Narr stakste als halbe Witzfigur aus dem bayerischen Oberland durch den Raum, saß und turnte auf seinem Polstersessel; der Feuchtigkeitsmesser wurde von 1. zum 2. Teil umgestellt; für Machtkämpfe des 2. Teils waren mehrere Hauptpersonen in handelsüblichen Versandkisten auf Rollwagen „angeliefert“; am Ende brachen Edmund und Edgar Knall auf Fall durch den Parkettboden in die Halle; Lear hatte seine Cordelia hereingeführt, sie dann brav „tot“ hinlegen lassen und zog sich dann als Ausstellungsobjekt in eine Vitrine zurück. Dass die Mord-Ladies Goneril und Regan zuvor dann mal ausgiebig Deo und Parfum gegen einen imaginär bleibenden Gestank versprühen, blieb der einzige Spielzug Richtung „absurd“ oder „skurril“. Ob ein Christoph Loy in diesem Ambiente etwas „Familiäres“ hätte inszenieren können?

„Jeder Mensch ist ein Abgrund“ sagt Büchners Woyzeck. Das hätten die durchweg hochklassigen Solisten, voran Christian Gerhaher (Lear), Hanna-Elisabeth Müller (Cordelia), Angela Denoke (Goneril), Ausrine Stundyte (Regan), Brenden Gunnell (Kent), Georg Nigl (Gloster), Andrew Watts (Edgar) und Matthias Klink (Edmund) sicher auch bei Shakespeare eindringlich, verstörend und abstoßend gestalten können. In Marthalers „Familie“ besaßen sie keine Fallhöhe. So war ihre souveräne Beherrschung der schwierigen Gesangspartien zu bewundern – und am Ende einhellig zu beklatschen. Ja, erstmals „Oper live“ – auch mit Maske schön – aber gerne etwas Beeindruckenderes!


  • Am 30.Mai – 18 Uhr und dann ab 01.Juni für 30 Tage kostenlos auf Staatsoper.TV abrufbar; am 30.05. ab 18 Uhr auch auf BR Klassik und als Live-Stream auf der BR Kulturbühne.

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