Hauptbild
Fiona Campbell und Peter Rundel bei musica viva. Foto: Astrid Ackermann
Fiona Campbell und Peter Rundel bei musica viva. Foto: Astrid Ackermann
Hauptrubrik
Banner Full-Size

musica viva münchen: Kolonialwaren im Herkulessaal

Publikationsdatum
Body

Eindrücke vom Konzert am 4.12.15 der musica viva Konzertreihe des Bayerischen Rundfunks und seines Symphonieorchesters. Die Komponisten Jörg Widmann, Cathy Milliken und Steve Reich brachten Reisebilder aus Bayern, Island, Mesopotamien, Japan, Griechenland und New York mit. Alexander Strauch analysiert.

Jörg Widmann: Dubairischen Tänze

Kennen Sie Richard Strauss? Das möchte man Jörg Widmann an vielen Stellen seiner Dubairischen Tänze fragen. Ob in Dubai als Teil des Into-Projekts, in München, in Freiburg oder anderswo komponiert, was manche kritische Seele zur Uraufführung erregte, tritt in den Hintergrund, wenn einem beim Zuhören immer wieder die Schrammelmusikanspielungen in Rosenkavalier und Arabella einfallen. Im Gegensatz zu Widmann war der Münchner Strauss allerdings nur wenige Jahre von der Wiener Straussdynastie entfernt als er deren populären Musikstil in seine Werke einflocht. Gerade im Ochsschen Wehgeschrei des zweiten Rosenkavalieraktes steckt mehr Dissonanz als in allen Nummern der Dubairischen Tänze zusammen. Aber vielleicht ist dies auch der falsche Winkel einer Annäherung. Erlebte man anlässlich der Münchner musica viva die Premiere der „chorischen Fassung“ für großes Orchester, wirkten sie in den vielen nach wie vor vorhandenen weiten Solopassagen wie Kammermusik, eine Etüde über das musikantische und doch manchmal unfreiwillig harmonisch falsche Spiel einer bayerischen Musikkapelle. Das lässt sich so heute bei Feiern und Aufmärschen im Alpenvorland immer noch original erleben, ist aber selbst dort aus der Zeit gefallen, musizieren diese Blasmusikformationen besser denn je, wie eben heute alles dem Perfektionismus unterworfen ist.

Wenn man genauer hinhört, entpuppen sich die Tonhöhenverwischungen neben zu lang gehaltenen und auf mehrere Instrumente aufgesplittete Schlafliednoten, obligatorische Tritonusabstände vor allem all Umkehrungen von picardischen Terzen, endet Dur in Moll. Eine Referenz an Schubert und Schumann könnte man meinen, letzterer ein Hausgott Widmanns. Dazu Anklänge an Tanznummern von Strawinsky, der somit zum zeitgenössischsten Vorbild innerhalb der Dubairischen Tänze wird. Einzig das ekstatische Wasserplätschern zweier Schlagzeuger in Zinkwannen könnte ein Bezug zu Cage sein. Dieses lustig gemeinte Intermezzo ist aber genau der Problemindikator dieser Musik: da hat jemand Vergnügen und Ehrfurcht vor der Vergangenheit und übersetzt das in die Musik jener tempi passati. Das ist in sich hochmusikalisch gesetzt. Wirkt aber innerhalb eines Konzerts der musica viva wie das zufällige Treffen von Klassikfreunden am falschen Ort, die sich kurz über das Zeitgenössische gruseln und dann mit ihren klassisch-romantischen Kenntnissen und Konzertsaalinsiderwissen prahlen.

Cathy Milliken: „Earth Plays“

Die im gleichen Konzert uraufgeführten „Earth Plays“ von Cathy Milliken beschränkten sich in der Breite ihrer Anklänge auch nicht. Doch wirkten sie in ihrem Bezug auf die Nachkriegsmoderne mit exotischen Einstreuungen, die die vier Orte Thingvellir in Island, Epidauros im antiken Griechenland, Gohyaku Rakan in Japan sowie die New Yorker Radio City Hall paraphrasierten ambitionierter als die zuvor erklungenen bayerischen Seligkeiten. Fiona Campbells warmer angelsächsischer Mezzosopran machte besonders am Ende Spaß, als sie leise und beschwörend schnell unter anderem Auszüge aus „Frühstück bei Tiffany“ murmeln durfte.

Steve Reich: Tehillim

Das leitete wundervoll zu „Tehillim“ von Steve Reich über, wo die US-amerikanische minimal music auf biblische Psalmen trifft. Abgesehen von den trotz klarer elektronischer Verstärkung zu weich spielenden BR-Symphonieorchesterstreichern unter der Leitung von Peter Rundel war dies aber keine trockene Bibelstunde mit den klaren Stimmen der Synergy Vocals in Glitzerpullis, sondern im Gegensatz zu den Babylon-Opernausschnitten Widmanns eine altmesopotamische Tempelorgie. Ob echt oder „nur“ reichlich bildhaft durch Steve Reich ausgelöst, sei dahingestellt. Aber hier zeigte sich, wie eine Neuinterpretation traditioneller Harmonik auch ohne Unterstreichung ihrer Vergangenheit funktionieren kann.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!