Als am 8. Mai 1945 russische Panzer durch Theresienstadt rollten, wurden sie von den Ghetto-Insassen jubelnd begrüßt. Angesichts des nahen Endes hatte die SS schon im Februar 1.200 Juden in die Schweiz ausreisen lassen. Ende April übergaben die Totenkopfverbände das Ghetto dem Internationalen Roten Kreuz, bevor sie am 5. Mai endgültig abzogen. Viele der 17.000 Menschen, die damals in Theresienstadt lebten, waren erst kurz zuvor aus anderen Lagern eingeliefert worden. Es herrschte eine Typhusepidemie, die zahlreiche Opfer fand. Der weitaus größte Teil der insgesamt 140.000 Personen, die dieses Ghetto durchliefen, war entweder an Hunger und Krankheit gestorben oder in Vernichtungslagern ermordet worden.
Heute bevölkern nur noch wenige Menschen die damals überfüllte Festungsstadt. Wenn hier siebzig Jahre später an die Befreiung erinnert wird, sind deshalb gedämpfte Gefühle eher angebracht als lautstarker Jubel. Auf Einladung der Stadt Terezín führte der traditionsreiche Oratorienchor St. Gallen mit deutschen und tschechischen Gesangssolisten sowie der Mährischen Philharmonie Olmütz in der Theresienstädter Kirche ein Gedenkkonzert durch. Schirmherren waren die Parlamentspräsidenten der drei beteiligten Länder Tschechien, Deutschland und der Schweiz, deren Grußworte zweisprachig Programmheft und Konzert einleiteten.
Während Terezíns Bürgermeister das Konzert als Chance begriff, „unsere Stadt sichtbar zu machen“, erinnerte der aus Prag angereiste Parlamentspräsident Jan Hamácek an die „tragischen Ereignisse“ im Ghetto und dessen musikalisches Erbe. Bundestagspräsident Norbert Lammert beschwor in seiner vom deutschen Botschafter verlesenen Rede die „Kraft der Musik inmitten einer von Menschenhand geschaffenen Hölle“. Für den Präsidenten des Schweizer Nationalrates bedeutete diese Gedenkveranstaltung eine Solidarisierung mit den Opfern und „ein wichtiges Zeichen gegen das Vergessen“. Allerdings erwähnte kein Grußwort die Befreiung vor 70 Jahren oder gar die russischen Befreier.
Wie kommt ein schweizerischer Chor dazu, ein Gedenkkonzert in Terezín durchzuführen? Den Auslöser bildete Milan Kunas Buch „Musik an der Grenze des Lebens“, durch das Uwe Münch, der Chorleiter, schon früh auf die Theresienstädter Komponisten Viktor Ullmann, Gideon Klein, Hans Krása und Pavel Haas gestoßen war. 2014 hatte er zum 70. Todestag Hans Krásas dessen Oratorium „Die Erde ist des Herrn“ in St. Gallen vorgestellt. Mit der Aufführung dieses Werkes in Terezín erinnerte er zugleich an den kürzlich verstorbenen Israel Yinon, der dieses bedeutende Werk 2001 an eben diesem Ort der Vergessenheit entrissen hatte. Krásas Komposition bildete nun das Zentrum des Gedenkkonzerts. „Drei Staaten, Tschechien, die Schweiz und Deutschland, sprechen mit einer Sprache, der Sprache der Musik“, so der Dirigent im Programmheft, „singen gemeinsam das Lied des menschlichen Schicksals und vereinigen sich voller Hoffnung in einer Vision der Erlösung“.
Mit weicher Registrierung und passendem Rubato spielte Claire Pasquier auf der mit deutschen Fördermitteln erst kürzlich renovierten Rieger-Orgel zu Beginn zwei Kompositionen von Johannes Brahms: sein Choralvorspiel „Herzlich tut mich verlangen“ und die grüblerische, an Reger erinnernde Fuge in as-Moll. Chor, Orchester und Solisten vereinigten sich danach zum „Schicksalslied“. Während die sehr hallige Kirchenakustik die Sphärenharmonie der von Hölderlin beschworenen Götterwelt verstärkte und verzauberte, tauchte sie das dramatisch gezackte Von-Klippe-zu-Klippe der Menschen oft in Nebel. Weiche Flöten und Hörner dominierten dann wieder im wunderbar homogenen Schluss.
Der deutsche Jude Hans Krása hat 1931 in seiner Heimatstadt Prag als einzige geistliche Komposition das Oratorium „Die Erde ist des Herrn“ geschaffen. Es bleibt bis heute ein Rätsel, warum er nach selbst ausgewählten biblischen Psalmen dieses 1932 uraufgeführte Werk schrieb, das wie das „Schicksalslied“ die schwachen Menschen der göttlichen Allmacht gegenüberstellt. Gott beherrscht die Erde, stellt der Chor gleich zu Beginn in kräftigem Unisono fest. Wiederholungen bestätigten diese Worte. Fanfaren führten zum zweiten Thema, dem Einzug des „Königs der Ehren“, zu dem der flehentliche Ruf „Wende Dich zu mir und sei mir gnädig“ einen deutlichen Kontrast bildete. Grelle Trompeten blitzten auf, wenn von der Angst des Menschen die Rede war.
Den Zemlinsky-Schüler Hans Krása prägten französische Einflüsse, etwa Arthur Honegger, ebenso wie Gustav Mahler. Beides klang an in der ostinatobegleiteten Partie „Du hast mir meine Klage verwandelt in einen Reigen“, die sich von tröstender Weichheit zu tosendem Lärm steigerte. Der Ruf „Singet dem Herrn ein neues Lied“, vom Bass-Solisten Ludek Vele markant deklamiert, eröffnete den Schlussteil des Oratoriums, der die weltliche Macht in Frage stellte: „Verlasset euch nicht auf Fürsten“. Obwohl ungewiss ist, wieweit der Komponist dies auch als eine politische Stellungnahme verstand, besaß die ausgefeilte Interpretation aufrüttelnde Kraft. Krásas Oratorium berührt unmittelbar, wie seine Kinderoper „Brundibár“ und die zuletzt in Karlsruhe umjubelte Oper „Verlobung im Traum“. Der Komponist hat die Befreiung Theresienstadts nicht mehr erlebt. Im Oktober 1944 wurde er von hier nach Auschwitz deportiert.
Abschließend erklangen zwei Kompositionen des aus Brünn stammenden Erich Wolfgang Korngold, der im kalifornischen Exil überlebte. Mit weit tragender Altstimme sang Susanne Gritschneder sein Abschiedslied aus op. 14, das in einen offenen Schluss einmündete. Triumphal endete dagegen Korngolds 1941 in Hollywood geschriebener Passover Psalm op. 30, bei dem die geballte Klangkraft von Sopransolo, Chor und Orchester die Theresienstädter Kirche zur Auferstehung des Herrn erdröhnen ließ. Kann und soll man aber die Erlösung des Volkes Israel angesichts der vielen Toten so pompös feiern?
Trotz der hochkarätigen Interpretation, trotz der prominenten Schirmherren und obwohl der 8. Mai in Tschechien ein Feiertag ist, gab es leider viele leere Plätze. Zu den auswärtigen Gästen gehörte der Enkel des Prager Komponisten Hans Winterberg, der als Jude noch im Januar 1945 ins Ghetto Theresienstadt eingeliefert worden war. Der 8. Mai bedeutete für ihn nur ein kurzes Aufatmen, denn wenig später brachten die Tschechen ihn als Deutschen in Theresienstadts Kleine Festung, bis er 1947 nach Bayern ausgewiesen wurde. Das umfangreiche Schaffen dieses Komponisten ist noch zu entdecken.