„Grenzenlos“ nennt der Stuttgarter Neue-Musik-Veranstalter „Musik der Jahrhunderte“ das World New Music Festival, das er 2006 im Auftrag der Gesellschaft für Neue Musik (GNM), die deutsche Sektion der ISCM (International Society for Contemporary Music) ausrichtet. Dass das Festival nach Stuttgart geholt werden konnte, liegt nicht zuletzt an den besonders guten Bedingungen für Neue Musik dort. Vor zwei Jahren bezog Musik der Jahrhunderte das Theaterhaus Stuttgart und verfügt seither über vier Bühnen und eine für Neue Musik überdurchschnittlich gute finanzielle Ausstattung.
Die starke Stellung der zeitgenössischen Musik in der Stadt ist nicht nur „Musik der Jahrhunderte“ allein zu verdanken. Seit Jahren sind die wichtigen Veranstalter Neuer Musik in Stuttgart eng miteinander vernetzt – jüngstes Kind dieses in Jahrzehnten gewachsenen Netzwerkes ist die Anfang März im Theaterhaus eröffnete gemeinsame Konzertreihe „Die Reihe“ von Akademie Schloss Solitude, Musik der Jahrhunderte, Staatsoper Stuttgart und SWR. Christine Fischer, Geschäftsführerin von Musik der Jahrhunderte und Generalmanagerin des Weltmusikfestivals, ist es auch beim Projekt „Grenzenlos“ gelungen, dieses auf eine solide wirtschaftliche Basis zu stellen. Es existiert eine Planung mit einem Gesamtbudget von 2,5 Millionen Euro, etwa 60 Prozent davon sollen schon sicher akquiriert sein.
Mit dem Ziel, eine breite Öffentlichkeit mit dem Diskurs über Interkulturalität und über die Beziehungen von Globalisierung und Kunst vertraut zu machen, hatte im Juli 2004 der erste von vier Kongressen das Festival „Grenzenlos“ vorbereitet. Nachdem erst einmal eine vorläufige Standortbestimmung vorgenommen worden war – der „erklärte Feind von Veranstaltungen wie den Weltmusiktagen heißt Eurozentrismus“, so Jörn-Peter Hiekel in der Eröffnungsrede – galt es nun, die ökonomischen und politischen Auswirkungen globalisierter Märkte auszuloten und die Aufgaben zu formulieren, vor die die Künste dadurch gestellt werden.
Mit fünf Tagen Dauer ist das Festival Neuer Musik „Eclat“ (siehe Bericht auf Seite 4 und 5) in Stuttgart zu einem Event avanciert. Ideale Voraussetzungen für den zweiten Kongress „Globalisierung und die Freiheit der Künste“, um anzudocken und die Anwesenheit von Publikum, Künstlern und Kameras für sein Anliegen zu nutzen.
Diese Chance wurde leider vertan. Weder das Publikum nahm den Kongress wahr, noch die zahlreich anwesenden Musiker und Komponisten. Man blieb in der Gegenwart: Die Proben und die aktuellen Uraufführungen waren wichtiger als ein in gar nicht so ferner Zukunft liegendes ISCM-Weltmusikfestival.
Den „Begriffen der Globalisierung“ war das Eröffnungsreferat der Philosophin Heidrun Hesse gewidmet. Mit Termini wie Ortlosigkeit, virtuelle Realität und telekommunikativer Partizipation versuchte sie die Ursachen der Globalisierung zu beschreiben. Steht uns unumgänglicher Fortschritt ins Haus, an dem wir versuchen sollten teilzuhaben, oder bedroht uns die Globalisierung in unserer wirtschaftlichen Existenz und kulturellen Identität?
Unter dem Titel „Im Takt des Geldes“ näherte sich Eske Bockelmann den Zusammenhängen von globalem Markt und Musik auf unorthodoxe Weise. Zu Beginn der Neuzeit habe sich die Entwicklung des Weltgeldes von Italien aus analog zur Metronomisierung der Musik entwickelt. Musik von Vivaldi, Bach und Telemann sei seither klar in rhythmisch strukturierten Gruppen gegliedert. Auch wenn Bockelmanns Thesen bei einigen Musikwissenschaftlern für Stirnrunzeln sorgten, so boten sie doch Zündstoff für die Diskussion.
Leider wurde die für den Kongress relevante Epoche ausgespart: nämlich die Moderne, die – abgesehen von Pop und Jazz – nicht gerade von rhythmisch sehr klar gegliederter Musik bestimmt ist. Bockelmann blieb sozusagen der ersten Globalisierung, nämlich dem Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit verhaftet. Was Markt und zeitgenössische Musik heute miteinander zu schaffen haben, ließ er offen.
Kernstück des ISCM-Festivals ist wie jedes Jahr der Kompositionswettbewerb. 50 Länder schlagen je sechs Werke vor, eine Jury bestehend aus Wolfgang Rihm (Vorsitz), Hans-Peter Jahn, Unsuk Chin, Pascal Dusapin, Julio Estrada, Olga Neuwirth, Vladimir Tarnopolski und George Benjamin wählt daraus jeweils ein Werk aus. Die Juryvorschläge stehen dann Christine Fischer und ihrem Beraterteam zur Disposition, die sie – auch mit weiteren Programmpunkten ins Gesamtkonzept von „Grenzenlos“ einarbeiten.
Der Kongress „Globalisierung und die Freiheit der Künste“ soll nicht nur der Theoriebildung dienen, sondern durchaus auch der Kriterienbildung für die Werkauswahl. Hilfreich in diesem Zusammenhang waren mit Sicherheit die Thesen des Philosophen und Japanologen Rolf Elberfeld. Seine Idee von der „Pluralität der Modernen“ eröffnete einen neuen Blick nicht nur auf die zeitgenössische Kunst und Literatur, sondern insbesondere auch auf die Musik von heute. Anhand verschiedener Beispiele der Akkulturation in Japan oder Indien, zeigte Elberfeld auf, wie sich weltweit verschiedene Wege der Künste ergeben. Das Resultat: eine neue Freiheit der Künste im Zeitalter der Globalisierung.
Mit Elberfelds Moderne-Begriff stieß man vor ins Zentrum ästhetischer Diskussion, an der sich auch Kongressteilnehmer wie Claus-Steffen Mahnkopf, Max Nyffeler, Nicolas Schalz – alle zur so genannten Festival-Vorbereitungsgruppe der GNM gehörend – engagiert beteiligten.
Der senegalesische Politologe Ousmane Kane und die portugiesische Psychologin Grada Kilomba Ferreira führten wieder auf gesellschaftspolitisches Terrain zurück. Kane, derzeit Associate Professor of International and Public Affairs an der Columbia University in New York, widerlegte mit seinen Studien, dass etwa der Mystizismus islamischer Sufi-Orden durch Prozesse der Modernisierung verschwunden wäre. Im Gegenteil verstärkten Prozesse der Globalisierung eine Renaissance der Sufi-Orden.
Grada Kilomba Ferreira beschäftigte sich mit den Folgen der Jahrhunderte langen afrikanischen Diaspora. Globalisierung bedeute auch Traumatisierung: „Das N-Wort (nicht nur negroe, sondern auch Neger) ist nicht neutral, sondern steht für eine Erfahrung kollektiver Unterdrückung.“
Tag drei galt der Politik. Der aus Teheran stammende Soziologe Mohssen Massarrat stellte die Frage „Warum hat sich die Demokratie im Mittleren und Nahen Osten nicht, wie in Europa, von innen heraus durchgesetzt?“ Am Beispiel Irak beschäftigte Massarrat sich mit dem „Kriegsziel Demokratie“, das das eigentliche „Kriegsziel Öl“ verbrämt, und lieferte eine klare Analyse der Interessenkonflikte im so genannten „Greater Middle East“.
Die iranische Friedensnobelpreisträgerin und Juristin Shirin Ebadi war nicht selbst gekommen, sondern hatte einen Text gesandt, den ihre Mitarbeiterin Sara Akbari vorlas. Eine poetische Metapher über das Verhältnis von Kunst und Politik. Wie widerständig, wie beharrlich muss Kunst sein und unter welchen Bedingungen (politischen wie materiellen) entsteht sie im Idealfall: Das waren die Kernpunkte der anschließenden Diskussion. Natürlich stand auch die Rolle der Frau im Iran zur Debatte und Sara Akbari verwies auf die sehr spezifische gegenseitige Beeinflussung von altpersischer Religion (der Lehre von Zarathustra) und dem Islam. Aus dieser gegenseitigen kulturellen Beeinflussung – auch im Iran existieren also „Götter im Exil“ –, resultiert die im Vergleich zu anderen islamischen Ländern starke Position der Frau in der iranischen Gesellschaft.
Dem Soziologen Moshe Zuckermann (Universität Tel Aviv) war es vorbehalten, den Kongress zu beenden. Sein Thema: die Doppelbödigkeit der Globalisierung im Zusammenhang mit Kunst. Sie wirke sich zum einen segensreich auf die allgemeine Zugänglichkeit aus, zum anderen schafft sie Vereinheitlichung und Standardisierung und ist verantwortlich für ihren Warencharakter.
Der dritte Kongress zum Thema „Globalisierung und die Freiheit der Künste“ wird im März 2006 in Stuttgart stattfinden.