Mit dem rätselhaften Titel „Das Maul ist der Text“, dessen Urheber Hans-Joachim Hespos sein soll, lud die „projektgruppe neue musik bremen“ am letzten Novemberwochenende vorigen Jahres (25. bis 27. November) zu ihrer 19. Konzerttagung ein. Dieser so treffende Begriff – Konzerttagung – wurde zu meinem Bedauern zwar schon vor Jahren gegen den Allerweltsbegriff Festival ausgetauscht. Das Konzept aber, Musik – immer „auf der Höhe der Zeit“ – zu hören und dieses Hören durch Vorträge sowie moderierte Gesprächsrunden gedanklich zu vertiefen, wurde beibehalten. Zum Glück. Der Titel blieb zwar trotz dieser Verzahnung von Hören und Wissenserweiterung ungeklärt. Aber das Programm machte auch diesmal wieder klar: Es geht in Bremen nicht schlechthin um zeitgenössische Musik, sondern um das Zeitgenössische in der Musik.
Im Tagungsteil, jeweils am Vormittag und vor den Konzerten, bildete der gedanklich ungemein dichte Vortrag des Professors für philosophische Ästhetik und Theorie, Dieter Mersch, das Kernstück. Aus phänomenologischer Sicht entwickelte er ein Denkgebäude, das die Stimme als andere Seite des Anlitzes im Sozialen verankert. Stimme ist immer Teilhabe und in der Verbindung von Körper und Geist eine soziale Handlung, woraus Komponisten wie Cage oder Kagel ihre Konsequenzen zogen. Gunnar Brandt-Sigurdssons stimmphysiologischen Ausführungen über das Funktionieren unserer Stimmorgane sowie die Ausführungen der Musikwissenschaftlerin Theda Weber-Lucks zu Pionierinnen der Performancekunst wie Cathy Berberian, Joan La Barbara, Meredith Monk und Diamanda Galas eröffneten ganz andere Einsichten in das Thema. Und durch die von der Radioredakteurin Ruth Jarre souverän geführten Diskussionsrunden erfuhr man Wissenswertes über die beteiligten Interpretinnen und Komponistinnen und ihre aufgeführten Werke.
Zu den Konzerten waren durchweg einige der weltbesten Stimmkünstlerinnen nach Bremen eingeladen worden: die Neuen Vokalsolisten Stuttgart, mit Shelley Hirsch eine der Grandes Dames der New Yorker Szene, dann die jungen Stimmperformerinnen Isabelle Duthoit (Frankreich) und Audrey Chen (Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln), die Sängerinnen Natalia Pschenitschnikowa (Russland) und Angela Postweiler (Deutschland) sowie der Countertenor Daniel Gloger (Deutschland). Durch die Dominanz der Frauen unterstrich das Festival den femininen Anteil an der Entwicklung einer experimentellen Stimmperformancekunst. Vielleicht ist das kein Zufall, wurde doch gerade die Stimme – als urmenschlicher Ausdrucksträger – zu einem einflussreichen Korrektiv einer zunächst in Abstraktion flüchtenden, (maskulinen) musikalischen Moderne.
Wichtig wurde damit die Improvisation. Die Performance der New Yorkerin Shelley Hirsch mit dem schweizer Turntablisten Joke Lanz „Freikalkuliertes PlötzlichKind“ glich einem hochvirtuosen, experimentellen Moritatengesang. Ohne narrativen Anspruch und noch raffinierter in der Stimmartikulation waren die Solo-Improvisationen ihrer jüngeren Kolleginnen. Gleich einem unstillbaren Strom ergossen sich in Audrey Chens Performance, aus einem sanft schnarrenden Nasenreiben am Mikrofon zu Beginn, differenzierteste Lautartikulationen: existenzielle Lebensäußerungen mit radikalen Wechseln auf engstem Raum. Isabelle Duthoit, ausgebildete Klarinettistin und als Stimmperformerin, ähnlich wie Chen, Autodidaktin, ließ sich durch das Studium des japanischen No-Theaters inspirieren. Ihre nicht weniger faszinierende Improvisation, tief aus der Kehlkopfregion heraus, hatte jedoch einen völlig anderen Klang: zusammengepresst, unfrei, rau, erdig.
Die Vokalsolisten Stuttgart zeigten mit Kompositionen von György Ligeti („Aventure“ für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, 1962, sekundiert von dem jungen Ensemble MAM) bis Christoph Ogiermann („Parole“ für vier verstärkte Solostimmen mit 8-kanaligem Bandzuspiel, 2012), welche Eigenständigkeit als Genre die Vokalperformancekunst inzwischen erlangt hat. Herausragend waren hier besonders die Kompositionen des Amerikaners Franklin Fox, des in Deutschland lebenden Palästiners Samir Odeh Tamimi und Ogiermanns „Parole“. In dieser verdichteten vier verstärkte Solostimmen – als kritische Replik auf gegenwärtige Demokratisierungsprozesse – ein in hohem Tempo herausgeschleudertes, repetitives Sprachmaterial zu einem scheinbar ausweglosen Prozess des Untergangs individueller Selbstbehauptung. Ton und Gesang sind nicht mehr möglich. Samir Odeh-Tamimis „Jarich“ („Mondgott“) für drei Frauenstimmen und Elektronik, komponiert 2013/14, fokussiert mit archaischen Tonfiguren eine persönliche Geschichte zu einem gerade heute allgegenwärtigen, bedrückenden Klagegesang. Ausgreifender noch ‚erzählt‘ Franklin Fox in seiner monumentalen „Entstehung II“ für sechs Stimmen – 2001 komponiert für die Neuen Vokalsolisten – in gleichsam szenisch strukturierten Vokalaktionen von Zuversicht und Drama menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft.
Werke für Solostimme, Stimmen und Ensemble, für Megaphone oder Stimme und andere Mitwirkende (wie etwa bei Jennifer Walshes „Language Ruins Everything“ mit Klavier und einem Freiwilligenchor) zeigten, dass die komponierte Stimme – bis zu deren Negation – neue Musik wieder in zutiefst menschlichen Regionen geerdet hat. Sie wurde zu einem wesentlichen Element kompositorischer Dramaturgie. Hannes Seidls „Die Geschichte von einem Mann …“ für Ensemble und Playback (2013) thematisiert das Phänomen des Motzens, des ganz privaten Sich-Auskotzens von unzufriedenen Menschen (verbal vom Band), wozu die jungen MAM-Musiker durch Präzision und musikalische Stupidität ein adäquates klangliches Umfeld schufen. Uwe Rasch negierte in „versprecher“ für Countertenor und Zuspiel (2014) – eine Uraufführung – alles Stimmliche und ließ Daniel Gloger stumm-theatralisch agieren. Der zugrunde liegende Text aus der Finanzwelt – die Nichteinlösbarkeit eines Versprechens – wurde kompositorisches Konzept.
Musikalischer Höhepunkt aber war zweifellos ein dreißig Jahre altes Stück im Abschlusskonzert, Musik, die unter die Haut geht und ins Hirn dringt: Hans-Joachim Hespos’ „donaia“ für Sprechstimme, Mitail, Oboe, Bassetthorn, Pikkoloflöte, Cello und große Trommel von 1986 mit Natalia Pschenitschnikowa (Stimme), Anina Machaz (Sprechstimme) und die manufaktur für aktuelle musik, MAM. Die für jeden der Interpreten in Klangaktionsspuren notierte Partitur verlangt und ist Entäußerung statt Äußerung, eskalierend in einem markerschütternden Schreien. Musik wird zum Sinnträger eines bedrohten existenziellen Seins. – Bei jedem Festival neuer Musik wünschte man sich so viel auditiven und mentalen Erkenntnisgewinn. Das alternative Theater Schwankhalle bot dafür übrigens einen wundervollen Rahmen.