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Musik-Lebewesen und Interdependenz

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Juha Kangas dirigiert Eliasson- und Nordgren-Premieren
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Genies waren zu allen Zeiten selten, und das Geniale ist weder dadurch charakterisiert, dass es sofort modetauglich wäre, noch muss es den Anschein der Speerspitze des „Fortschritts“ gewähren. Zu einer Zeit, wo die Idee von der Umwertung allmählich gänzlich dem Pragmatismus alles erfassender Verwertung weicht, wo die Vielfalt den Interessierten überschwemmt und das Überangebot an Mitteln und Möglichkeiten die Kreativen zudröhnt, wird es nicht einfacher, echte Substanz zu erkennen. In der Musik des Schweden Anders Eliasson geht es nicht ums Material. Dieses ist in seinen Händen, bei aller unbeirrbar scheinenden Brillanz der jeglicher Satzkonvention enthobenen polyphonen Behandlung, nur Mittel zur Transzendenz desselben.

Genies waren zu allen Zeiten selten, und das Geniale ist weder dadurch charakterisiert, dass es sofort modetauglich wäre, noch muss es den Anschein der Speerspitze des „Fortschritts“ gewähren. Zu einer Zeit, wo die Idee von der Umwertung allmählich gänzlich dem Pragmatismus alles erfassender Verwertung weicht, wo die Vielfalt den Interessierten überschwemmt und das Überangebot an Mitteln und Möglichkeiten die Kreativen zudröhnt, wird es nicht einfacher, echte Substanz zu erkennen. In der Musik des Schweden Anders Eliasson geht es nicht ums Material. Dieses ist in seinen Händen, bei aller unbeirrbar scheinenden Brillanz der jeglicher Satzkonvention enthobenen polyphonen Behandlung, nur Mittel zur Transzendenz desselben. 1947 in der Provinz Dålarna geboren, führte Eliasson schon als zehnjähriger Trompeter seine eigene Jazzband an, versenkte sich nach leidvollen Jugenderfahrungen mehrere Jahre ins Studium der Musik Johann Sebastian Bachs, studierte Komposition bei Ingvar Lidholm und musste feststellen, dass das kompositorische Business mit den Wellen seiner tönenden Innenwelt nicht zu harmonisieren ist bis heute. In Schweden wird ihm ähnliche Nichtachtung zuteil wie schon Allan Pettersson oder Sven-Erik Bäck. Es entspricht nicht dem nationalen Minderwertigkeitskomplex, Genies hervorzubringen. Eliasson, der seit 1970 die Dimensionen der „triangulatorischen“ Tonalität erkundet, die er „nicht erfunden, sondern nur entdeckt“ hat, denn sie ist „eine natürliche Sache“, hat in den 80er-Jahren zwei ungefähr viertelstündige Klassiker für Streichorchester geschrieben: „Desert Point“ und „Ostácoli“. Diesen folgte nun als Auftrag zum 30-jährigen Bestehen des führenden nordischen Streicherensembles, des Ostrobothnian Chamber Orchestra, die „Sinfonia da camera II“, die dem Dirigenten Juha Kangas gewidmet ist. Das Werk, unter Kangas im finnischen Kokkola nach zweiwöchigen Proben so klarsichtig und mitreißend uraufgeführt wie dies kaum irgendwo anders möglich sein dürfte, umspannt die drei Abteilungen „Andante - Allegro - Lento“ in einem einzigen 38-minütigen Satz. Das ist vielleicht überhaupt das längste, was an symphonischer Streichermusik am Stück zu bekommen ist.

Das Publikum lauschte in fast atemloser Stille dem hingebungsvollen Prozess, der von fragilst auffächernder Zärtlichkeit bis zu vulkanischen Kettenreaktionen das Klang- und Ausdrucksspektrum des Streichorchesters umfasst, ohne der Sinnlichkeit als Selbstzweck zu verfallen. So gerät die musikalische Form zum Lebewesen, das sich mit dem Hörer verbindet, und die zeitliche Dimension schmilzt zum gedehnten Moment, in dem man „alles auf einmal“ wahrzunehmen scheint, um mit Mozart zu sprechen. Das ist eine Grenzüberschreitung der sublimierten Art, unmittelbar menschlich in ihrer monadischen Mannigfaltigkeit, unprätentiös in ihrem den Furien der Zeit entrinnenden Wagemut. Unverständlich, dass man den überragenden Rang Anders Eliassons noch zu verkennen imstande ist, dessen neuestes Werk in der heutigen Kompositionslandschaft beispiellos erscheint.

Vergangenen Herbst hatten Kangas und das Ostrobothnian Chamber Orchestra mit Helén Jahren das Oboenkonzert von Finnlands expressiv einsamem Tonmystiker Pehr Henrik Nordgren aus der Taufe gehoben, eine im Dualismus archaischer Melodie und bedrohlicher Dissonanz gleißend sphärische, suggestive Erzählung ohne Geschichte. Nun dirigierte Juha Kangas das Turku Philharmonic Orchestra in der europäischen Erstaufführung von Nordgrens Sechster Symphonie. In Turku herrscht eine lange Nordgren-Tradition, von dort kamen schon die Aufträge zu seinen ersten vier Symphonien, und nun visiert man eine Gesamteinspielung von Nordgrens Orchesterwerken unter Kangas’ Leitung an – ein Projekt, das überfällig wäre. Die im Jahr 2000 komponierte 6. Symphonie op. 107, ein Auftrag des Tohoku Universitätschors und am 8. Dezember 2001 in Japan uraufgeführt, hat eine Sonderstellung in Nordgrens Œvre. Sie ist die Vertonung einer Rede des eminenten kanadischen Schriftstellers David Suzuki vor den Vereinten Nationen anlässlich der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 und trägt den Titel „Declaration of Interdependence“ (Erklärung der wechselseitigen Abhängigkeit), gegliedert in die drei Sätze „This We Know“, „This We Believe“ und „This We Resolve“, und gesetzt für Sopran, Tenor, gemischten Chor und großes Orchester. Es ist weniger eine Symphonie als eine gerade für eine in aggressiv verblendete Reaktion gezwungene Spezies Mensch dringliche Botschaft, und die Musik unterstreicht das Verkündende, indem sie vor allem die Wirkung des Wortes stützen möchte: die Chorpartien sind orffisch einfach und streng gehalten, ohne Polyphonie; die Solisten hingegen müssen manchen Bogen wagnerisch körperhafter Intensität spannen bis an die Grenze der stimmlichen Möglichkeit, was Anu Komsi und Petri Bäckström meisterlich gelang; das Orchester schließlich ist mit einer an Schostakowitsch gemahnenden zeichnerischen Direktheit und barbarischen Wucht als eigentliches Farb- und Ausdruckselement ins Spiel gebracht, was dem Titel „Symphonie“ einen gewissen Sinn zurückgibt. Die Turkuer Philharmoniker spielten mit identifikatorischer Emphase, bildeten mit ihrem Anführer Kangas eine verschworene Gemeinschaft, die im Dienste der heiligen Sache keine Gleichgültigkeit kennt und so das wahrhaft Außergewöhnliche überhaupt erst ermöglicht.

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