Hauptbild
Musiktheater „Bä!“ von Clemens K. Thomas. Foto: Martin Sigmund/ECLAT

Musiktheater „Bä!“ von Clemens K. Thomas. Foto: Martin Sigmund/ECLAT

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Musik, Poetik, Politik, was noch?

Untertitel
Uraufführungen beim Stuttgarter Festival Eclat 2024
Vorspann / Teaser

„Ich krieg das alles nicht mehr auf die Kunstebene. Und was kommt? Kunst!“ Christoph Ogiermanns Bekenntnis zeugt von Ohn- und Allmacht. Gleich zu Anfang seiner „Encouragements and Contradictions“ stellt er klar, dass ihm die Vereinbarkeit von Kunst und „das alles“ nicht gelingt. Der 1967 geborene Komponist spricht aus, was gegenwärtig viele Musikschaffende umtreibt: sie möchten auf aktuelle Themen und Konflikte reagieren, um gesellschaftlich relevant zu sein. Doch zugleich fühlen sie sich hilf- und nutzlos, weil sie weder über die Kunst-Musik-Festival-Bubble hinaus gelangen noch den gegenwärtigen Krisen gerecht werden, so dass ihr Kunstwollen gesellschaftspolitisch irrelevant bleibt. Anspruch und Wirklichkeit, Sagen und Machen klaffen einmal mehr auseinander, auch beim diesjährigen Festival Eclat im Stuttgarter Theaterhaus.

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Im Podiumsgespräch mit Michael Zwenzner trägt Ogiermann ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden“. Der Spruch stammt vom an den Marterpfahl gefesselten Ranger alias Old Surehand aus Bully Herbigs Western-Travestie „Der Schuh des Manitu“. Spaß, Klamauk, Ernst und Satire vermengt auch Ogiermanns „Session“. Der Composer-Performer will komplexe und direkte Musik machen, Lebensbereiche jenseits von Kunst ansprechen und durch Selbstverausgabung Starres und Gebundenes ins Offene und Freie verflüssigen. Vollgepumpt mit Texten, Bildern, Videos, Aktionen, Elektronik und dem fantastischen New Yorker Quartett Yarn/Wire überlagert er alles simultan zu lautstarkem Tumult. Während die Pianistinnen endlose Tonkaskaden, Akkorde, Unterarm-Cluster abarbeiten, traktieren die Schlagzeuger die Innenklaviere mit Schlägeln, Holzklötzen, Metallteilen, Wurfgeschossen. Ständig kollidieren „Ermutigungen“ mit „Entgegensetzungen“. Auf instrumentale Virtuosität folgt kreatürliches Schreien, Hegels Herr-Knecht-Dialektik wird mit pornographischen Zeichnungen quittiert, Stefan Wolpes „Battle Pieces“ stehen konträr zu Elektronik und Nebelmaschine, der Aufruf zur antifaschistischen „Einheitsfront“ prallt auf eine fingierte SMS an den Komponisten, er solle auf offener Bühne onanieren.

Ogiermann will eingefahrene Mittel, Produktions- und Präsentationsweisen sprengen, aufrütteln, provozieren, aus Traditionen, Verklemmungen und Prüderie ausbrechen. Mit Ironie und Pathos legt er die eigene Orientierungs- und Hilflosigkeit offen. Er schont weder sich noch das Publikum. Doch sein quirliger Cocktail aus Thesen und Antithesen bewirkt nur heilloses Durcheinander statt Erkenntnis. Chaotische Gleichzeitigkeit ist eine legitime Strategie zur Abbildung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Hohldrehender Aktionismus führt aber bloß zu relativistischer Beliebigkeit. Das grelle Konglomerat leidet nicht zuletzt am performativen Widerspruch, dass Ogiermann in der Dichte des Geschehens nicht unsichtbar ist – wie von ihm beabsichtigt –, sondern als exhibitionistischer Selbstdarsteller omnipräsent ist. Er redet, singt, tobt, zeichnet, spielt Klavier, drängelt ständig ans Mischpult, stolziert, tigert, kriecht über die Bühne, knöpft sich das Hemd auf und deutet vor Sopranistin Siddhii Davii Lagrutta kniend die geforderte Masturbation an.

Im selben Konzert brachte Yarn/Wire „Diagrams of the Ear“ von Eric Wubbels zur Uraufführung. Das Stück des 1980 geborenen New Yorkers be­ginnt mit Knack-Fröschen, die per Sampler zu Pulsationen werden, gefolgt von klirrenden Autofedern und klangverwandten Anschlägen im höchsten Klavierregister. Dann verdichten sich lange Ausklänge zu Tremoli auf Tasten und Tamtam-Wirbeln, kollektivem Sirren und Fauchen. Schließlich bringen Akkuschrauber mit Gummiball-Aufsätzen Trommeln zu erdbebenartigem Dröhnen. Material, Struktur und Formverlauf greifen nachvollziehbar ineinander. Das macht hellhörig und entfaltet womöglich mehr politische Implikation als vordergründige Provokation. Denn Politik beginnt nicht mit postpubertärem Revoluzzertum, sondern mit genauem Wahrnehmen von Wirklichkeit, klarem Durchschauen von Zusammenhängen, kreativem Entdecken von Eingriffs- und tatkräftigem Entfalten realer Veränderungsmöglichkeiten. In Musik geht es dementsprechend um Hören dessen, was tatsächlich klingt, sich verbindet und daraus entwickelt.

Orchester und Ensemble

Milica Djordjevics „Mali Svitac“ wirkt ebenfalls wie eine Reaktion auf den aktuellen Unfrieden in Welt und Gesellschaft. Unter Leitung von Brad Lubman platzt das SWR-Sinfonieorchester mit schreiendem Tutti-Clus­ter heraus. Jede Stimme versucht, so laut wie möglich alle anderen zu übertönen, so dass sich alle Egoismen und Partialinteressen gegenseitig ersticken. Dem Klangsymbol folgen schnarrende Harfensaiten als würden Musik und Gemeinwesen zerreißen. Isolierte Einzelaktionen und flirrende Impressionismen eskalieren schließlich wieder zu finalem Wüten. Bei Turgut Erçetins „Das Phonem zwischen zwei Wörtern (b)“ bleibt das Orches­ter dagegen die meiste Zeit stumm, um dem von Spitzeninterpreten der neuen Musik gebildeten Barockensemble Elisium zu lauschen. Neu und alt sind hier keine Gegensätze. Und dass die Mehrheit der Minderheit zuhört, ist eine demokratische Tugend.

Franck Bedrossians „Don Quixote Concerto“ spielten Pianist Christoph Grund und Schlagzeug-Assistent Jochen Schorer mit Toy Piano und Interventionen im Innenklavier als buffonesker Widerpart Sancho Panza. Ähnlich den „Phantastischen Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters“ von Richard Strauss changiert das Stück zwischen illustrativer Programmatik und rein artistischem Sonorismus. Das Orchester raschelt mit Papier als blättere Cervantes’ komischer Antiheld in vergilbten Ritterepen. Auch kollektives Pusten, Flüstern, Summen, Pfeifen und Gläserklirren lässt Episoden des Romans assoziieren.

Belenish Moreno-Gil und Óscar Escudero beschießen das Publikum im Liederzyklus „The Day Fanny Mendelss­sohn Died“ mit einer Überfülle an biographischen und überflüssigen Informationen in Wort, Bild, Musik, Video und Internet-Splittern. Sopranistin Johanna Vargas verkörpert die später verheiratete Komponistin Fanny Hensel durch Gesang, Elektronik und Tiktok-Posen in verschiedenen weiblichen Fremdbestimmungen und Selbstformatierungen als Gattin, Mutter, Hausfrau, Showgirl, Popstar, YouTuberin.

Die „Poetry Affairs“ der Neuen Vocalsolisten Stuttgart handeln in Dichtung und Komposition von Liebe, Schönheit, Verlust, Tod, Alltag, Absurditäten sowie Sprache als Kommunikationsmittel und unversiegbare Quelle von Missverstehen. Im Vorjahr konzertant uraufgeführt, wurde der vierstündige Marathon aus neun Stücken nun im größten Saal des Stuttgarter Theaterhauses bei flexibler Bestuhlung inszeniert. Georgia Koumará und Flor de Fuego lassen in „sl*p & gl*de“ digitale Informationsflut in Desinformation umschlagen. Sichtbares Live-Coding dreht elektronische Sounds und Visuals zu einem bunt flackernden Strudel, der auch die Mitwirkenden vor großer Kinoleinwand im Pixel-Mix verwirbelt und an Paul Virillios „rasenden Stillstand“ erinnert. Cia Rinnes Sprachspiel „Wasting my Grammar“ dreht aus rhythmischen und polyphonen Wortketten immer neue Silben-, Grammatik- und Bedeutungsvarianten. Narrative Hörspiele boten Bnaya Halperin-Kaddaris „Bears Nudging“ auf einen Text von Dery Rees-Jones und Vera Burlaks Lyrik zu dezentem Soundtrack. Dariya Maminovas „Continuums“ ist ein eigener Zyklus aus dreizehn Miniaturen vom A-cappella-Gesang über Sprechtexte bis zum zarten Lullaby.

Theater und Chor

Für Kinder zwischen fünf und neun Jahren gab es drei Aufführungen des Musiktheaters „Bä!“ von Komponist Clemens K. Thomas und Regisseurin Miriam Götz. Ein kleiner Junge und sein Teddybär als bester Freund bauen gemeinsam eine glitzernde Zeitmaschine, reparieren einen defekten Uhrzeiger, reisen um die Welt und gehen getrennte Wege. Teddy-„Bä“ (Bariton Guillermo Anzorena) verliebt sich in einen Kaktus und der Knabe (Tenor Martin Nagy mit vorgeschnallter Handpuppe) folgt einem verführerisch blinkenden Roboter (Bassist Andreas Fischer). Am Ende finden die Freunde wieder zusammen, sind happy und singen gemeinsam den Schlusssong. Theatral wirkte auch Aaron Holloways „I Contemplate Moments of Silence and Find Them Few“ für Trompete und Bariton. Marco Blaauw und Ty Bouque lieferten sich mit sprechender Gestik einen ebenso rituellen wie lebhaften und virtuosen Dialog durch alle Stimmlagen und Klangfarben.

Wieder anders behandelte Michael Reudenbach das SWR Vokalensemble in „Was noch.“ auf Worte von Jürgen Becker. Die 20 Sängerinnen und Sänger agieren ohne Dirigent Michael Alber in schachbrettartiger Aufstellung streng formalisiert nach Clicktrack und synchron umgeblätterten Noten mit Liegetönen und repetitiven Wortfolgen. Sie bilden keinen üblichen Schmelzklang, sondern werden wie mechanische Orgelpfeifen diskret an- und ausgeknipst. Exakt programmierte Vierteldrehungen der Chormitglieder führen zu wechselnder Abstrahlcharakteristik und unterschiedlichen Formationen von Solo, Duo, Quartett, antiphonaler Doppelchörigkeit und gleichgerichtetem Tutti. Reudenbach setzt in seinem Stücktitel seltsamerweise einen Punkt statt eines Fragezeichens. Hat die neue Musik das Fragen, Suchen, Forschen, Weitergehen aufgegeben? Was bliebe dann noch?

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!