Als die australischen Staaten, an ihrer Spitze Victoria, New South Wales und Queensland vor gut 100 Jahren in Melbourne eine gemeinsame Bundesregierung einrichteten, etablierten sie dort auch eine parlamentarische Bibliothek mit einem Mitarbeiter. Neben historischen Abhandlungen, Gesetzbüchern und Zeitungen fanden sich in dieser bescheidenen Sammlung einige belletristische Bücher zur Unterhaltung der Parlamentarier. Musik spielte keinerlei Rolle. Auch nach dem Umzug von Melbourne in die neue Hauptstadt Canberra, wo die Parlamentsbibliothek zur Nationalbibliothek wurde, schenkte man der Tonkunst keine Aufmerksamkeit. Der National Library of Australia stand zwar die Library of Congress in Washington als leuchtendes Beispiel vor Augen; aber es sollte noch bis zum Jahr 1973 dauern, bis sie eine eigene Musikabteilung erhielt.
Die Musikabteilung in Canberra ist ein Kind des kulturellen Aufbruchs der frühen 70er-Jahre, der „Withlam Years“ (benannt nach dem 1972 gewählten Labour-Premier Edward Whitlam). Noch mehr als die Literatur und Malerei des Landes segelte die australische Musik bis dahin im Windschatten des „Mutterlands“, weshalb ehrgeizige australische Musiker und Musikwissenschaftler oft gleich nach London übersiedelten. In den Whitlam Years kehrten einige von ihnen zurück und halfen dem Land, sich auch geistig auf eigene Füße zu stellen. Nachdem Roger Covell 1967 die erste Musikgeschichte Australiens vorgelegt hatte, begann man auch an der National Library die Defizite zu bemerken. Waren bis dahin Noten und Musikbücher eher zufällig in ihren Besitz geraten, so entschloss man sich 1968 erstmals zum Ankauf eines größeren Musikalienbestandes.
Es handelte sich um die Sammlung des Buchhändlers und Musikkritikers Kenneth Hince mit umfangreichen Materialien zum australischen Musikleben. Der in Adelaide lehrende Musikwissenschaftler Andrew McCredie wurde beauftragt, diese Sammlung zu bewerten und zugleich Ideen für ein nationales Musikarchiv zu entwickeln. In einem Projektpapier forderte er eine genreübergreifende Sammlung gedruckter und ungedruckter musikalischer Quellen des Landes, ergänzt um vielfältige Zeugnisse der Volksmusik, Nachlässe von Komponisten und Musikern, Quellen zur Rezeption, zur asiatischen Musik, durch Abbildungen sowie durch repräsentative Werke aus aller Welt.
Ein solches Musikarchiv solle über den musealen Zweck hinaus ein „living archive“ sein. Dazu müsse die aktive Sammeltätigkeit durch Kontakte zu den Universitäten, durch Veranstaltungen, Ausstellungen und Veröffentlichungen ergänzt werden.
Als ehemalige McCredie-Schülerin lernte die Musikwissenschaftlerin Robyn Holmes dieses Projektpapier früh kennen. Seit dem Jahre 2000 ist sie als Musik-Kuratorin der National Library verantwortlich für die Realisierung der dort benannten Ziele. Vieles, was 1968 nur angedeutet werden konnte, bekam inzwischen klare Konturen. So betrieb die Bibliothek im Bereich der Volksmusik aktive Feldforschung, indem sie Fachleute mit Musikaufnahmen beauftragte. Die Sammlung des Folklore-Forschers John Meredith, die den Grundstock gebildet hatte, wurde beträchtlich erweitert und bietet inzwischen Quellenmaterial für die Erforschung der Musik- und Sozialgeschichte des Landes, aber auch für die musikalische Praxis. Zur Idee eines „lebenden“ Archivs gehören ebenso die im Oral History Department aufbewahrten Interviews mit australischen Komponisten.
Wer die Musiklesesäle deutscher Bibliotheken kennt, wird beim Betreten der äußerlich so imposanten National Library zunächst enttäuscht sein: es gibt keinen eigenen Musiklesesaal. Fragt man nach Musikbüchern, wird man auf ein Regal verwiesen, in dem neben den Bänden des Grove-Dictionary einige weitere Nachschlagewerke stehen. Keine deutsche Kleinstadtbibliothek würde sich mit seinem so bescheidenen Freihand-Angebot zufriedengeben. Was auf den Regalen fehlt, findet sich in den Magazinen. Die zahlreichen Bildschirme verschaffen Zugang zu den Katalogen und weiteren Informationen. Sie werden noch reger benutzt als die Bücher oder Noten selbst, nicht zuletzt von Angehörigen der jüngeren Generation. Hat man einen Titel online gefunden und bestellt, wird er überraschend schnell geliefert.
Nach dem Aufbruch des Jahres 1973 waren die Bestände der Musiksammlung durch weitere Ankäufe sprunghaft angewachsen und durch kommerzielle Tondokumente ergänzt worden. Weil sie nur unzureichend katalogisiert worden waren, flossen die Gelder ab 1985 nicht mehr in Ankäufe, sondern in Technik und Personal. Vier Jahre später wurde die Musiksammlung sogar geschlossen und in den Gesamtbestand integriert. Ein weiterer Rückschlag folgte, als 1993 die Position der Musikbibliothekarin eingespart wurde. Aber sieben Jahre später entschloss man sich, eine Kurator-Stelle für Musik einzurichten und damit diesem Bereich wieder mehr Beachtung zu schenken. Keine Bibliothekarin, sondern eine Musikwissenschaftlerin wurde mit der Aufgabe betraut.
Robyn Holmes, eine kleine Person voller Energie, betrachtet sich vor allem als Vermittlerin – als Vermittlerin zwischen den Medien, aber auch zwischen der Bibliothek und ihren Nutzern: „Wir wollen Musik unter die Leute bringen, sie überall für alle Australier und zu jedem Zweck verfügbar machen.“ Was das in der Praxis bedeutet, war an den Ostertagen 2004 zu beobachten. Beim National Folk Festival, das nun schon zum zwölften Mal in der Hauptstadt stattfand, informierte die Bibliothek in einem eigenen Zelt über ihre Bestände. Viele der insgesamt 45.000 Festival-Teilnehmer aus dem In- und Ausland nutzten diese Möglichkeit oder besuchten die Veranstaltungen, an den die Bibliothek beteiligt war. So hatte sie erstmals ein Folklore-Stipendium vergeben. Die Geigerin Jane Brownlee und der Akkordeonist Dave de Santi hatten für mehrere Wochen privilegierten Zugang zu den umfangreichen Folklore-Sammlungen erhalten und stellten nun die faszinierenden Ergebnisse ihrer Studien auf Konzerten und einer CD vor.
Im Unterschied zu den Nationalbibliotheken von Berlin, London, Wien oder Paris ist die von Canberra relativ weit entfernt von den Brennpunkten des Musiklebens. Es gibt in der australischen Hauptstadt eine Musikhochschule, jedoch kein festes Orchester oder gar eine Oper. Als Antwort auf die isolierte Lage und auf die riesigen Entfernungen im Lande nutzt die National Library of Australia besonders intensiv das Internet. „Unser Ideal ist es, dem Nutzer das gewünschte Objekt in digitalisierter Form direkt über das Netz zu liefern.“
Robyn Holmes weiß, dass noch enorm viel zu leisten ist, bis die etwa 200.000 Musikobjekte der Bibliothek (davon die Hälfte aus Australien) und die etwa 500 musikbezogenen Manuskripten-Sammlungen auch nur annähernd digital erfasst sind. Bei so umfangreichen Beständen wie der Peter Sculthorpe-Collection, der größten Sammlung eines einzelnen Komponisten in Australien, wie bei den von der Australian Broadcasting Corporation übernommenen Orchesterpartituren (Symphony Australia) oder den Aufführungsmaterialien des Impresarios J.C. Williamson, die bis zum Jahr 1860 zurückreichen, wird dies nur teilweise geschehen können.
Neue Kompositionen oder Websites dagegen werden gleich in digitaler Form erworben. Allerdings sind vor der Internet-Veröffentlichung Urheberrechtsprobleme zu klären.
Weitere Informationen unter
www.nla.gov.au
www.musicaustralia.org