Weltenkunde sollte eine höfische Gesellschaft amüsieren und zeigen, wie in vier fremden Kulturen, bei den galanten Wilden geliebt wird. Dem seit Ludwig XIV. zur Staatskunst geadelten Tanz entsprechend schuf 1735-36 Jean-Philippe Rameau ein „Opéra-ballet“, gleichsam ein Vorgriff auf das „Gesamtkunstwerk“, das nun spät zur Münchner Erstaufführung kam.
Uneingeschränkter, frenetischer Jubel im Prinzregententheater – zu Recht für die musikalische Seite. Mit Ivor Bolton kam der emphatische Kenner und Liebhaber dieser Musik ans Pult. Mit einem um Originalinstrumente angereicherten „Festspielorchester“ breitete er wie aus einer Schatzkiste aus, dass Rameau viele noch heute musikalische Grundbegriffe geprägt und bis heute Weiterwirkendes komponiert hat: Stimmungen mit Tempi verbunden; aus dem Rezitativ kurz auftauchende Ariosi, die fließend ins Rezitativische zurückführen; raffinierte Harmoniewechsel unter Einbezug von Dissonanzen; die gleichfalls fließende Verbindung von Solo- und Chorgesang; die geradezu modernistische Verwendung von „inégalité“, von rhythmisch ungleichmäßigen Notenwerten, wie sie im „Groove“ des Jazz vorkommen und Rameaus Musik oft tänzerischen Swing verleihen – und dann immer wieder einen klanglichen Farbenreichtum – der prompt auch heute begeistern kann. All das gelang mal spielerisch kurzweilig, mal dramatisch „gewitternd“, mal lyrisch intim oder von klagender Seelentiefe kündend.
Stellvertretend für die vielen begeisternden Instrumentalisten sei das betörende Flöten-Spiel von Mathias Kiesling Gionata Sgambaro* genannt, der wesentlich zum Solo-Applaus für Phanis Anrufung des Ehegottes beitrug. Auch ein späteres Quartett löste Szenenbeifall aus, denn auf der Bühne stand ein Traumensemble: zehn erstklassige Solisten wechselten durch fünfzehn Rollen und Charaktere und von „A bis V“ – von Cyril Auvtiy (Valère und Tacmas) über Anna Prohaska (Phani und Fatime) und Ana Quintans (L’Amour und Zaïre) zu Mathias Vidal (Carlos und Damon) – bezauberten, amüsierten und beeindruckten sie alle … was ein „Bravo“ für Casting-Scout Pål Moe und das Künstlerische Betriebsbüro unter Victor Schoner einschließt. Ein musikalischer Festspielabend.
Das Werk präsentiert mitten im damals laufenden Kolonialisierungsprozess und dem aufklärerischen Interesse an Neuem, Fremden und Exotischen mit den Schauplätzen „osmanische Türkei“, „Inka-Peru“, „orientalisches Persien“ und „indianisches Amerika“ schon damals Gesellschaftspolitik im Theaterkostüm. Für all das baute Anna Viebrock einen edel heruntergekommenen Saal mit Stacheldrahtbegrenzung ganz oben als Einheitsbühnenbild. Darin wird anfangs eine Schulklasse unterrichtet. Museale Schaukästen werden von den Tänzerinnen und Tänzer der „Eastman Company“ hereingeschoben, doch niemals zur Vorführung von „lebenden Bildern“ genutzt. Eine womöglich aus Viebrocks Marthaler-Bebilderungen mitgebrachte männliche Reinigungskraft durchtanzt den ganzen Abend putzend. Ein Schulschrank wird als von Amor überwachte geschlechtergetrennte Toilette mit „Frei-Besetzt“-Lichtern genutzt, entpuppt sich für andere Spielzüge dann auch als Beichtstuhl. Der Naturvolk-Priester hat sich zum sexgeilen katholischen Priester verändert, der auf einem Segboard umher gleitet. Der vielfach umkostümierte und herrlich differenziert singende Freiburger Balthasar-Neumann-Chor tritt dann auch als Flüchtlingszug von Heute samt Plastikplanenunterkunft auf. Mehrere Tänzer fuchteln unprofessionell mit Kalaschnikoffs. Die Choreografie vereint Athletisches, Kreiselndes, Wälzungen, Domino-Effekte, Kriechen, Springen und Rennen. Über allem kreist ein Hubschrauber-Rotor ohne Lüftungsfunktion. Alle nicht verortbaren Liebesprobleme scheinen am Schluss gelöst, indem Zima und Adorio samt einigen Tänzern zum Duett-Rondo „Friedliche Wälder“ eine imaginäre Glasscheibe zwischen Bühne und Publikum putzen. Inszenierung und Choreografie stammen von Sidi Larbi Cherkaoui. Einhelliger Jubel.
*Nachtrag 27.7.2016: In einer früheren Version dieses Artikels war der Name des ersten Flötisten nicht korrekt angegeben worden.