„Linden, 21“ nennt sich ein neues Format für Uraufführungen im großen Haus der Staatsoper Unter den Linden. Als erstes in der von Intendant Matthias Schulz innovierten Reihe erfolgte – in Koproduktion mit dem Theaterhaus Stuttgart und den Ludwigsburger Schlossfestspielen – eine Art szenischer Liederabend. Die Innovation galt dabei weniger dem Inhalt oder der szenischen Umsetzung als der musikalischen Bearbeitung durch das alpenländische Ensemble Franui.
Weder die von zwei Solisten vorgetragenen Lieder von Ludwig van Beethoven, Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Gustav Mahler und Anton Webern, noch die räumliche Umsetzung mit Standprojektionen und Videos machen den Abend zu einem Erlebnis, wohl aber die klangliche Bearbeitung durch die Osttiroler Musicbanda Franui. Das etwa auch in Zusammenarbeit mit den Festspielen in Erl mit ungewöhnlichen klanglichen Umsetzungen, insbesondere von Werken Gustav Mahlers, hervorgetretene Ensemble augmentiert vorhandene Kompositionen und setzt diese dann in festgelegten eigenen Improvisation fort. Dabei wird beispielsweise in Trauermarsch durch Beschleunigung zur Polka und umgekehrt.
Die von Markus Kraler und Andreas Schett übermalten und interpolierten Liedbearbeitungen sind reizvoll, schärfen sie doch beim Rezipienten immer wieder die Vergleiche mit Hörgewohnheiten, etwa wenn oft gehörte Kunstlied-Kompositionen statt mit Klavierbegleitung nunmehr in ungewöhnlichem Klanggewand, mit Zither, Hackbrett und Akkordeon zu solistischen Streichern, Harfe, Holz- und Blechbläsern erklingen.
Durchaus geschickt, insbesondere für eine Reise-Produktion, sind die von Felix Nolze entwickelten Bildelemente: So wird etwa eine Wippe umgedreht zur Brücke und hochkant aufgestellt zu einer Bar-Theke. Linienprojektionen des Videodesigners Andreas Dihm spielen mit den Umrissen eines Hauses, dessen Interieur dann mit Bett Tisch, Klavier und Grammophon als Komponistenstube bespielt wird.
Die Aktionen der Maskenspieler mit übergroßen, traurigen, alten Gesichtern (Masken: Hajo Schüler), beginnt bereits vor der Aufführung. Wohl noch nie ist die Bühne Unter den Linden so gründlich spiegelblank gewischt worden, wie hier von der Putzkolonie der Familie Flöz; zugleich wird der Orchestergraben heftig eingestaubt, insbesondere das Dirigentenpult, welches sich kurz darauf – und angesichts der Staubmengen glücklicherweise – als unnötig erweist: Dass der Dirigent ebenfalls eine Maske trägt, hindert das Publikum nicht, diesem den obligatorischen Auftrittsapplaus zu spenden. Doch dieser Dirigent ist nur ein Fake – der das Ensemble musikalisch leitende Instrumentalist Andreas Schett schickt ihn wieder weg.
Auf solche Weise gestaltet sich Einiges liebenswert und komisch, mit aus dem Zirkus Roncalli bekannten Versatzstücken, wie etwa dem Produzieren großer Seifenblasen. In Michael Vogels Inszenierung kommen neben den schon erwähnten Putzutensilien als Requisiten zunächst eine blaue Blume der Romantik, später dann Trauerkränze und ein von einer Leiter ausgeworfener und aus der Bühnenhöhe unterstützter Blätterreigen ins Spiel.
Zu vermissen ist der große Bogen, der dramaturgisch packende Zugriff. Alles scheint beliebig aneinandergereiht. Nun könnte man erwidern, die beliebige Reihung sei ja ein bei Liederabenden häufig anzutreffender Vorgang; doch die Entwicklung dieser Kunstform hat gezeigt, wie auch hier rote Fäden im Programmaufbau nötig geworden sind, bis hin zur minimalistischen szenischen Umsetzung, etwa durch Patricia Petibon bei den Salzburger Festspielen 2009.
Die etwas lang geratene Schlussszene von „Himmelerde“ – so der ebenfalls arg beliebige Titel des Abends – zeigt als Kurzfilm von Mats Sütoff zwei Maskenträger, welche die Staatsoper verlassen, ihr Zuhause nach einem Fußweg durch das nächtlich beleuchtete Berlin per S-Bahn erreichen und dann noch auf einem Markt einkaufen, bis die Frau, nach Küche- und Bad-Verrichtungen, schließlich zu Bett geht; eine jüngere Frau bestückt einen Geburtstagskuchen mit Kerzen und trägt ihn zum Bett – realistisch dann auch auf die Bühne, zu der nun im und ums Bett versammelten Gruppe der Darsteller*innen; die Akteure werden dann ausschließlich vom Kerzenlicht beleuchtet bis dieses durch Auspusten erlischt. Dass mit der abgefilmten Dame die Mutter jenes Mädchens aus „Der Tod und das Mädchen“ gemeint ist – mit dem Tod als Spielmacher des Geschehens (Tanz und Choreographie: Paul White) –, das vermag die Szene allein nicht zu vermitteln.
Anna Prohaska in der nur als Sopran bezeichneten Rolle zeigt stimmlich unterschiedliche Facetten; sie gefällt als jazzige Diseuse (verstärkt?), während sie bei den Kunstliedern zu Beginn des Abends in der Höhe mit Intonationsproblemen zu kämpfen hat. Florian Boesch in der Rolle Bariton verfügt über weniger Facettenreichtum. Bei Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“ wird er von dem Blech aus dem Graben hoffnungslos zugedeckt – das ist wohl nicht als Witz intendiert und liegt wohl auch nicht an der Akustik in der letzten Reihe des dritten Rangs, die sich als erstaunlich ausgewogen und präsent erweist. Leichter hat es Boesch, wenn er sich auf die um den Orchestergraben gelegte Passarelle begibt. Später muss er die Kolleg*innen als Leiche über die Bühne schleifen. Merklich will er aufzeigen, dass auch er über dramatische Möglichkeiten verfügt, etwa in einer in der Abfolge etwas deplatziert eingefügten Szene aus „Rigoletto“.
Nach 100 pausenlosen Minuten applaudiert das Premierenpublikum kräftig und lang anhaltend für das gesamte Ensemble. Dennoch hinterlässt diese Uraufführung nicht den Eindruck einer Staatsopernproduktion, sondern den eines Gastspiels – mit hochwertigen, freien Ensembles.
Weitere Aufführungen: 17., 19. Januar, 6. und 7. April 2019.