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Musikalische Wanderung in fünf Etappen – virtuelles 360°-Konzert des STEGREIF.orchesters

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Den (noch) anhaltenden Umständen geschuldet feierte das Konzertprojekt #explore_mozart des Stegreiforchesters seine Premiere online. Doch freilich beließ es das für seine ausgefallenen Experimente bekannte Ensemble nicht bei einem simplen Stream: Die Aufführung wurde als 360-Grad-Video übertragen, bei der ein Microphone-Dummy – ein Kunstkopf mit eingebauter Mikrophonierung – auch für die akustische Verräumlichung sorgte. Wie der Untertitel „Von fünf Anfängen und inneren Zielen“ es andeutet, setzen sich die von jeweils einem Ensemblemitglied konzipierten Abschnitte mit den fünf Grundidealen der Freimaurerei auseinander, die zentral für Mozarts Weltanschauung waren.

Freiheit

Hauchen wird zu Rauschen – ein Signalruf – Tonereignisse formen Klangkulisse – die Musiker*innen schreiten beständig durch den Raum. Milena Gutjahr senkt ihre Geige, geht ins Summen über, in Vokalisen, ihre Stimme erhebt sich in textlosen Figurationen über ein sich allmählich herausschälendes Fundament, das der Rest des Ensembles in Liegetönen singt. Dann setzen wieder die einzelnen Instrumente ein: mit sanftem Zug die Posaune – warm melodiös kommt das Horn hinzu; archaisches Trommeln verbindet sich mit dem Fideln der Violine, bis leichtfüßig die Gitarrensaiten zu tänzeln beginnen. Eine kurze choralartige Ausbreitung führt schließlich zum berühmten Thema – im Gestus aber ganz dem Untertitel dieses Teils entsprechend: „Eine Reise über ein irisches Volkslied zu Mozarts 40. Sinfonie und wieder zurück.“ Der imaginierte Kontext gleicht einem Marktplatz, auf dem zwischen dem abwechslungsreich belebten Treiben eben auch Teile der bekannten Melodie aufblitzen. Elemente musikalischer Folklore präsentieren sich wetteifernd als schillerndes Zusammenspiel wie sich ständig überlagernde Straßenmusik.

Gleichheit

Mit schweren Trommelschlägen gleich Donnergrollen setzt Felix Demeyere erste Akzente. Streicherklänge changieren zwischen exzentrischem Kreischen, sehnendem Schluchzen und dem manierlichen Duktus von Mozarts 21. Streichquartett – Bassklänge schieben sich naturgewaltig darunter. Wummernd hallt die elektronische Verzerrung nach, bereitet vor auf ein metallenes Stimmengewirr: „All human beings are born free and equal in dignity and rights“, beginnt die Stimme aus dem Off mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verheißungsvoll anzuklagen, zerfasert bald in wabernder Elektroakustik. Der Microphone-Dummy, stellvertretend für das Publikum, wird zum aktiv wahrgenommenen Gegenüber der musikalischen Interaktion, zum ›Ansprechpartner‹ und dadurch gewissermaßen zum Subjekt gemacht.

Brüderlichkeit

Im anschließenden Teil, der Mozarts 15. Streichquartett zum Ausgangspunkt hat, umspielen die Instrumente den Publikumsstandort regelrecht. Bald tanzen nicht mehr nur die Töne, sondern auch die (hier fünf) Musizierenden rundherum, bewegen sich mal schneller, mal langsamer und reizen räumliche Effekte aus. Die musikalische Struktur fächert sich auf zu flächigen Klanglandschaften, verläuft, verzweigt sich in drängende Impulse, die hervortreten, versickern, wieder aufscheinen, endlich ein neues Metrum antreiben, das Franziska Aller am Kontrabass aufgreift: darüber ein schimmerndes Firmament, aus dem sich erneut die Gestalt des Streichquartetts herausbildet. Es ist die Geschichte einer Zusammenkunft im ständigen Widerstreit, trotz Ringen immer um ein solidarisches Miteinander bemüht.

Toleranz

Hektischen Schritts treiben die Musiker*innen durcheinander, ganz wie die flinken Figuren und schrubbenden Äußerungen ihrer Blasinstrumente. Machtvoll lässt Sebastian Lange das Baritonsaxophon erschallen, gleich einem Schlachtruf in der Morgendämmerung – die Oboe hält mit zierlichen Bewegungen dagegen. Grazie setzt sich durch und der Kopfsatz des 15. Streichquartetts kehrt in der neuen Besetzung zurück, als einigten sich die Parteien kurzum, ehe alles abermals zerfällt, zerstäubt und buchstäblich durcheinanderwirbelt: zitternd repetieren Einzeltöne, klanglos züngelt Atem durch den Korpus. Die Trompete blubbert in einen gefüllten Trog hinein, formt in das glucksende Wasser die von Brahms vertonte Melodie, zu der nach und nach alle Instrumente im Satz einstimmen: „Da unten im Tale läuft's Wasser so trüb, und ich kann dir's nicht sagen, ich hab dich so lieb.“

Menschlichkeit

Ganz klassisch nun sitzt die neue Gruppe für Mozarts Klarinettenquintett im Kreis um uns herum. So nah kommt man Musizierenden selten. Ganz neu erfahrbar werden ihre feinen Gesten zärtlichen Ausdrucks: ein verschmitztes Lächeln – liebevoller Augenkontakt – spannungsvolles Mitatmen. Dann verteilt sich die Musik freier, Notenblätter rascheln: Ist es nicht das Papier, das uns die deutlichsten Bruchstücke der Vergangenheit bis heute erhielt? – durch die Mühe etlicher Abschriften von Generation zu Generation über die Jahrhunderte. Zurück an den Stühlen das 4. Streichquartett angestimmt, an dem dennoch auch Nikola Djurica mit der Klarinette teilhat, entspinnt sich bald eine Klangkarawane spielerischer Tongestalten. Auch Vokalisen kehren wieder: Ist es nicht der Gesang, der Musik erst schuf? Stimme ist immer Ausdruck — möchte gehört werden — ist Veräußerung. Bewegung ist Leben und geschäftiges Treiben wie am Marktplatz ist menschlich. Vielleicht so sehr, dass Menschsein gar nicht ohne gedacht werden kann. Aber auch Wettbewerb kann freundschaftlich ablaufen. Das ist was Musik als Musizieren immer sagt.

Im Grunde

Mozart ist nur ein Wort. Niemand hängt an diesem Wort, aber Millionen hängen an den Klängen die sie mit dem Wort verbinden. Deswegen pflegen wir diese Musik und bringen sie immer wieder neu zum Leben – immer wieder anders.

Auf vieles deutet #explore_mozart: auf den verführerischen Drang nach Immersion, die erschlagende Anzahl an heute sichtbaren Perspektiven und das Spannungsfeld zwischen Handlungsmöglichkeiten und Ungewissheit über den Ausgang unserer Taten. Zu guter Letzt wird auch betont: Bei aller aktueller Fixierung auf uns selbst, auf Identität, muss es am Ende doch um alle gehen. Und damit auch um Kompromisse: Denn bei allem Streit und Kampf kann am Ende nur alles gut werden, wenn alle mitmachen.


FREEDOM | 1. Gruppe: Alistair Duncan (Posaune/Stimme), Antonio Rivero (Percussion/Stimme), Michael Riemer (Gitarre/Stimme), Milena Gutjahr (Komposition/Konzept & Violine/Stimme)

EQUALITY | 2. Gruppe: Bartosz Nowak (Violine), David Fernandez (Violoncello), Paul Lapp (Bass), Felix Demeyere (Komposition/Konzept & Percussion/Elektronik)

FRATERNITY | 3. Gruppe: Célia Schann (Violine), Edward King (Violoncello), Marc Kopitzki (Viola), Valerie Leopold (Violine), Valerie Leopold (Violine), Franziska Aller (Komposition/Konzept & Kontrabass)

TOLERANCE | 4. Gruppe: Anne Willem (Oboe), Jan Kaiser (Trompete/Flugelhorn), Malin Sieberns (Flote), Núria Rodríguez Díaz (Horn), Sebastian Lange (Komposition/Konzept & Baritonsaxofon)

HUMANITY | 5. Gruppe: Anne-Sophie Bereuter (Violine), Lukas Hanke (Viola), Mon-Puo Lee (Violoncello), Sebastian Caspar (Violine), Nikola Djurica (Komposition/Konzept & Klarinette)

TON: Patrick Leuchter, Philipp Scholz

FILM: Maximilian Feldmann

PRODUKTION: Lea Hladka

STUDIO: UFO Sound Studios e.K. Berlin

ΚΟΝΖΕΡΤ: Juri de Marco

 

 

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