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Musikalischen Wucherungen auf der Spur

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Die Festtage 2015 der Staatsoper Berlin standen ganz im Zeichen des 90. Geburtstags von Pierre Boulez
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Am 26. März feierte Pierre Boulez seinen 90. Geburtstag. Bei aller ästhetischen Kontroverse ist sich die Musikwelt heute einig, dass er zu den prägendsten Figuren der Musik seit 1945 zählt – als Komponist wie als Dirigent, als Musikpolitiker wie als Pädagoge. Ein umfangreiches, gewichtiges Programm hatte die Staatsoper Berlin für dieses Jubiläum gestrickt, das nur kurz nach dem Geburtstag ihre vorösterlichen „Festtage 2015“ prägte: Hochkarätige Orchesterkonzerte und ein Klavierrecital gaben einen umfassenden Einblick in Boulez’ kompositorisches Schaffen; die diesjährige Opernpremiere nahm mit „Parsifal“ dasjenige Werk in den Blick, mit dem Boulez 1966 seine folgenreiche Wagner-Arbeit auf dem Grünen Hügel begonnen hatte. Ein Besuch des ersten Konzertwochenendes.

Wenn es ein verbindendes Thema der beiden Boulez-Konzerte am letzten Märzwochenende in der Philharmonie gibt, so ist es die Wucherung. Und das ist kein Zufall, ist doch „Wucherung“ stets eine bestimmende ästhetische Idee im Schaffen von Pierre Boulez gewesen. Im Werkkatalog des Komponisten führt das zu einer geradezu verwirrenden Vielfalt von Varianten, Neufassungen und Ableitungen. Im Inneren der Werke sorgt es für einen Reichtum, der seinesgleichen sucht. Auch deswegen ist Boulez’ Musik anspruchsvoll – für den Hörer wie für den Interpreten.

Mit umso mehr Engagement setzt sich Daniel Barenboim als Dirigent der beiden Konzerte für diese Musik ein, am Freitagabend mit den Wiener Philharmonikern, am Sonntagmittag mit „seiner“ Staatskapelle Berlin. Seit Jahrzehnten sind Boulez und Barenboim miteinander verbunden, immer wieder hat Barenboim Werke des Komponisten interpretiert, neue in Auftrag gegeben oder Boulez als Dirigenten an seine jeweilige Wirkungsstätte eingeladen. Treffend drückt er im üppigen Programmbuch dieser „Hommage à Boulez“ aus, was an der Musik des Franzosen so schwierig und zugleich so reizvoll ist: „Was ihn (…) beschäftigt, ist die Frage, wie das musikalische Material so interessant wie möglich gestaltet werden kann. Und wenn das bedeutet, dass die Dinge komplexer sein müssen, dann wird er es so machen.“

Dabei ist es durchaus reizvoll zu sehen, wie Boulez’ Werke im Kontext völlig anderer, älterer Musik wirken. Das Konzert der Wiener Philharmoniker am Freitagabend ermöglicht dies, denn Boulez wird hier gleichsam eingerahmt: Am Ende des Konzerts steht – man hätte vielleicht Passenderes finden können – eine fulminante Interpretation der „Großen“ C-Dur-Symphonie von Franz Schubert. Den Beginn macht Bachs „Air“, das die Musiker spontan den Opfern des Absturzes der Germanwings-Maschine über Frankreich widmen. Natürlich kann Barenboim bei Bach die Zügel ganz locker halten, den herrlichen Streicherklang der Wiener einfach strömen lassen, während er in Boulez’ herrlichem „Livre pour cordes“ das Klanggeschehen vornehmlich organisieren muss. Und doch stellt sich der Eindruck her, als versuche er, bei beidem die gleiche freie Musizierhaltung herzustellen.

Gleiches gilt für den Sonntag, wo die Staatskapelle Berlin sich dem Wagnis eines reinen Boulez-Programms stellt. Auch in der ausgedehnten Vokalkomposition „Le Visage nuptial“ auf Texte René Chars versucht Barenboim bei allem Strukturbewusstsein die expressive Kraft hervorzuheben. Das gelingt auch deshalb, weil ihm exzellente Sängerinnen zur Seite stehen: Sowohl Moj­ca Erdmann als auch Anna Lapkovskaja bringen die emotionalen Seiten der Partitur zur Geltung, auch wenn sie bisweilen Schwierigkeiten haben, sich über der Klangwucht des Orchesters Gehör zu verschaffen. Eindrucksvoll singen auch die Damen des MDR und des NDR Rundfunkchores.

Um das Prinzip der Wucherung zu begreifen, ist jener direkte Vergleich von Werkfassungen sinnvoll, den beide Konzerte ermöglichen. Am Sonntag stehen jene Teile der frühen Klavierwerke „Notations“ auf dem Plan, die auch als Orchesterbearbeitung vorliegen (die Nummern 1 bis 4 und 7). In direkter Abfolge spielt Barenboim zunächst mit Verve und ohne Rücksicht auf Verluste das jeweilige Klavier- und dirigiert dann das entsprechende Orchesterstück. Die „Notations“ sind, so viel wird deutlich, weit mehr als nur Transkriptionen; Boulez hat das Material gehörig sprießen lassen.

Bereits am Freitag stehen in ähnlicher Weise zwei Versionen von „… explosante-fixe …“ nebeneinander: In „Mémoriale“, sieht sich die Soloflöte (souverän: Karl-Heinz Schütz) einem Ensemble aus acht Musikern gegenüber, in „… explosante-fixe … originel“ hingegen einem etwa doppelt so großen Ensemble, ergänzt um zwei weitere Flöten und Live-Elektronik (vom IRCAM realisiert). Interessante Klangräume tun sich auf, wie auch am Sonntag in „Anthèmes 2“, einem fast musikantischen Stück für Solo-Violine (virtuos: Michael Barenboim) und Elektronik.

Die Publikumsreaktionen: enthemmter Jubel am Freitag, lang anhaltender Applaus am Sonntag. Daniel Barenboim ergreift am Ende noch einmal das Wort: Es freue ihn, mit welcher Vertrautheit ein Orchester solches heute spiele und mit welcher Selbstverständlichkeit das Publikum ihm zuhöre. Man möchte ihm zustimmen.

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