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Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper. Modest Mussorgsky: Boris Godunow. Foto: Wilfried Hösl
Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper. Modest Mussorgsky: Boris Godunow. Foto: Wilfried Hösl
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Musikdramatik von Heute – Kirill Petrenko dirigiert erstmals Mussorgskys „Ur-Boris“ in München

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Komplettes Dunkel im Zuschauerraum – der „Eiserne“ fährt hoch – und im dunklen Nebelgewabere ein Blick auf - den Kiewer „Maidan“: zunächst nur die Silhouetten einer helmbewehrten, militärisch wirkenden Miliz, die uns, die „Demokraten“, von den „anderen“ im noch düsteren Hintergrund trennen. Dann kommen sie nach vorne und werden von den Milizen zu dem, wozu sie „gebraucht“ werden, angehalten, gedemütigt und terrorisiert: „Volksmasse“, durch Drogen, kleine Wohltaten, Gewalt und daraus resultierende existentielle Lebensangst dumpf gehalten.

Erschreckend grandios, wie sehr da wahre Bühnenkunst und insbesondere der ja „gewalt-erfahrene“ Regisseur Calixto Bieito im Februar 2013 die Realität des „Maidan 2014“ vorweggenommen hat. Auch wenn jetzt in der Wiedereinstudierung noch einige Übergänge speziell mit dem aufklappenden Machtkubus von Bühnenbildnerin Rebecca Ringst nicht fließend gelangen, wenn die Maskenbildner befremdlicherweise den greisen Mönchschronisten Pimen durch den Einspringer Ain Anger in der Erscheinung „junger Mann“ singen ließen: die Inszenierung ist ein „Wurf“ und die Hinzufügungen Bieitos – Morde an Grenzwachen, dem Gottesnarr und Boris’ beiden Kindern – verbiegen nicht, sondern ergänzen historisch und realitätsnah.

Doch das Hauptaugenwerk galt natürlich dem neuen GMD: wie sieht der ja russisch stämmige Kirill Petrenko seinen Landsmann Modest Mussorgsky und dessen Erstfassung des „Boris Godunow“ von 1868/69? Hörbar war gleich zu Beginn ein deutlicher dunkler Grundton aus Kontrabässen und Celli. Mit deutlich nuancierter und jede Stimmgruppe ansprechender Gestik führte Petrenko dann den von Sören Eckhoff einstudierten Chor parallel zu Bieitos Regie: kuschendes Piano unter Knüppeln, dann pflichtgemäß stufend gesteigerte Fürbitten zur Thronannahme und dann ein fulminanter Klanghöhepunkt zu Boris Thronannahme: zunächst am Boden reckt dieses Prekariat erst flehend stumm vereinzelte Arme, dann erheben sich die ersten parallel zu den eingeforderten Jubelrufen, dann viele zu den loswummernden Kirchenglocken, ehe Petrenko ein machtvolles „Slava! Hoch!“ fordert – eine gespenstische „Jubelszene“ im rauchgeschwängerten Halbdunkel.

Dazu lässt Petrenko später die Szene mit den saufenden Bettelmönchen kontrastieren: Mussorgskys skurril „moderne“ Floskeln und dann für Warlaams Tanzlied ein aberwitziger Rhythmus, was Vladimir Watorin beeindruckend mitmachte. Doch derartiges Losmusizieren dämmt Petrenko immer wieder ein, seine vielfachen Forte-Piano-Wirkungen beeindrucken, Hörner und Posauen klingen, aber decken nie zu. Anatoli Kotscherga bringt für die weltweit von ihm gesungene Titelrolle noch viel „typisch russische Bolschoi-Erfahrung“ mit: die große Geste, die heftige Emotion und somit Reaktion auf die Intriganten um ihn herum – doch da schienen sich Dirigent und Sing-Schauspieler in der Muttersprache zu treffen. Prompt klang Kotscherga vokal unverbrauchter als sonst, durfte dem großen Aufbrausen Raum geben und Petrenko begleitete sein Sterben dramatisch packend. Münchens neuer GMD hält da Kontakt zur Bühne wie keiner seiner derzeitigen Kollegen – ein Musiktheater-Dirigent.

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