Drei Wochen lang, vom 27. August bis zum 18. September, leuchtet das Musikfest Stuttgart derzeit das weitläufige Thema "Wasser" musikalisch aus. Auf dem Programm steht etwa Tan Duns "Water Passion", die die Veranstalterin des Musikfestes, die in Stuttgart ansässige Internationale Bachakademie, einst selbst im Rahmen ihres großen Passionen-Projektes im Jahr 2000 zur Uraufführung gebracht hat. Daneben gab es jetzt aber auch noch ein weiteres Wasser-Oratorium zu hören: Die deutsche Erstaufführung von "Los caminos del Agua" (Wasserwege) der venezolanischen Komponisten Gonzalo und Alberto Grau – speziell für dieses Musikfest von der Bachakademie in Auftrag gegeben. Die Uraufführung dieses fünfteiligen Oratoriums für Soli, einen Rezitator, Chor und Orchester fand allerdings schon zwei Wochen vorher in Caracas statt.
Vater und Sohn Grau haben den Text einer Verwandten, von María Fernanda Palacios, vertont. Das Libretto beleuchtet das Element Wasser von den unterschiedlichsten Seiten. Es handelt vom mystischen Ursprung des Wassers, besingt hymnenartig dessen lebensspendende Kraft, klagt die globale Umweltverschmutzung an, beschreibt die Folgen von Wassermangel. Es thematisiert religiöse Aspekte – Taufriten, afrikanische Wassergottheiten und den heiligen Fluss Ganges – und erzählt vom Leben am Fluss und vom Sterben in seinen Fluten. Und es reist durch die Welt: Vom Rhein ist die Rede, von der Themse, vom Ganges, vom Amazonas, vom Nil und von zig anderen Strömen.
So bunt das Libretto, so vielfältig auch die Musik. Gonzalo Grau hat den Hauptpart komponiert. Der Vater steuerte einige A-Cappella-Chöre bei und stand dem Sohn als Berater zur Seite. Gonzalo Grau liebt die Stilvielfalt. Er verarbeitet Stile unterschiedlichster Kulturen. Afrikanische, indische und lateinamerikanische Rhythmen werden genauso hörbar wie sakral-archaische Klänge, gregorianische Antiphone, europäische moderne Gesangstechniken, einfache folkloristische Melodien, Clusterklänge, Poppiges, Filmmusikartiges, elektronische Zuspielungen wie Samplings aus Meeresgeräuschen und Volksgesängen. Er wolle das Publikum in einen "klanglichen Whirlpool" versetzen, "in dem es ein- und ausatmen" solle "wie ein einziger menschlicher Wal", sagt der Komponist.
Große Teile des vorwiegend spanischen Textes wurden von einem Erzähler, dem Schauspieler Carlos Sánchez Torrealba, eindringlich und wortgewaltig vorgetragen, melodramatisch untermalt von farbigen Orchesterklängen. Unter der Leitung von Maria Guinand, die der Bachakademie und ihrem künstlerischem Leiter Helmuth Rilling seit langem freundschaftlich verbunden ist, spielte das Bundesjugendorchester die bunte Partitur engagiert und rhythmisch inspiriert. Erstaunlich, wie professionell und genau die 14- bis 19-Jährigen an die Arbeit gehen. Die Gächinger Kantorei, gekleidet in blaue, lehmfarbene und türkise Gewänder, hatte neben dem komplexen, durch unterschiedlichste Stile switchenden Chorpart, den sie mitreißend, intonationssicher und farbig gestaltete, auch die Aufgabe, den Gesang mit dramatischen Gesten zu unterstützen – dürstend nach Wasser bettelnd oder wild den Regen beschwörend.
Ein Erlebnis die Solisten: Die wunderbare Altistin Gioconda Cabrera Colon berührte etwa als trauernde Mutter, absolut rein intonierte der Knabensopran Benedikt Hoppe. Bass-Bariton Ivan Garcia als mythischer Fährmann José Belén erfreute nicht nur durch sein sonores, warmes Timbre, sondern auch durch ekstatische Tänzchen auf der Bühne.