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Ilya Silchuk (Tadeusz), Damen und Herren des Opernchors. Foto: © Candy Welz

Ilya Silchuk (Tadeusz), Damen und Herren des Opernchors. Foto: © Candy Welz

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Musiktheater auf blanken Nerven: Scharfe Neubefragung von Weinbergs „Die Passagierin“ in Weimar

Vorspann / Teaser

Mit der ihnen eigenen Genauigkeit untersuchten Jossi Wieler und Sergio Morabito die Psychodynamik der 1968 entstandenen, erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführten und zunehmend im Repertoire verankerten Oper „Die Passagierin“. Sie schürfen auch hinter den Narrativen von deren bisheriger Rezeptionsgeschichte. Die am Ende mit glühendem Applaus bedankte Premiere des Deutschen Nationaltheaters Weimar und letzte Musiktheater-Produktion im großen Haus unter der Intendanz von Hasko Weber und Operndirektorin Andrea Moses ist Höhepunkt der Weimarer Themenwoche „schau mich an“ zum 80-jährigen Gedenken an die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald und dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine imponierend starke Leistung auch der Staatskapelle Weimar unter Roland Kluttig und des von Sarah Mehnert, Taejun Sun und Emma Moore angeführten Ensembles.

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Das Regie-Tandem Jossi Wieler und Sergio Morabito nutzte zwei starke Mittel. Zum einen brachte man in Weimar erstmals eine durchgängig deutsche Übersetzung von Susanne Felicitas Wolf und Sergio Morabito, welche dem Sprachgemisch vorheriger Produktionen nach dem russischen Originallibretto von Alexander Medwedew ein Ende setzte. Durch diese inhaltliche Präzisierung erhält das historisch, dramaturgisch und affektiv gleichermaßen eindrucksvolle Werk noch höhere Dringlichkeit. Im Foyer zeigte man eine Ausstellung zu Leben und Werk der polnischen Autorin Zofia Posmysz, nach deren 1959 erschienenem Roman die Oper entstanden war. Dieser ging es nicht um nationalistisch gesetzte Schuldzuschreibungen aus Deutschlands dunkelster Zeit und der infernalischen Massenvernichtung stigmatisierter Randgruppen, sondern um direkte Betroffenheit und die ihr ganzes Leben dauernde Emotionalität für Posmysz’ Mitgefangene in den KZs Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Neustadt-Glewe.

In Weimar kommt es nicht auf der Schiffsreise von Deutschland nach Brasilien zum Déjà-vu der früheren KZ-Aufseherin Lisa mit der ihr fünfzehn Jahre früher unterstellten Inhaftierten Marta. Dafür hat Anna Viebrock, inspiriert vom Schauplatz der Frankfurter Auschwitz-Prozesse ab Dezember 1963, einen Einheitsraum gebaut, der Assoziationen an Versammlungsräume in den Lagern und auf dem Schiff erhält. Somit entfallen alle Gesellschaftsszenen der Reise. Die aberwitzige Spirale von Erinnerung, vagen Schuldgefühlen, Verdrängung und massiver Angst vor Entdeckung, vor beruflichen Nachteilen und Stigmatisierung Lisas und ihres Mannes Walter wird umso deutlicher. Die KZ-Opfer und Überlebenden sind immer gegenwärtig – nicht in Häftlings- und Arbeitskleidung, sondern als Zivilpersonen wie vor ihrer Deportation. So entsteht durch den Opernchor des DNT (Einstudierung: Jens Petereit), in Episodenpartien durch Heike Porstein, Sayaka Shigeshima, KateÅ™ina Kurzweil, Anne Weinkauf und Ylva Sofia Stenberg ein beklemmend intensiver Danse macabre. Die bei den Auschwitz-Prozessen herbeigerufenen Gesichter wird man noch lange nicht los. Sie liegen da und erheben sich – immer wieder, nicht abspaltbar und schmerzend unvergessen.

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V.l.n.r.: Damen und Herren des Opernchors (unten), Elias Nuriel Kohl (Steward/Mister Bradley), Ilya Silchuk (Tadeusz), Sarah Mehnert (Lisa), Elke Sobe (Oberaufseherin), Oliver Luhn (1. SS-Mann), Alexander Günther (3. SS-Mann), Andreas Koch (2. SS-Mann), Emma Moore (Marta). Foto: © Candy Welz

V.l.n.r.: Damen und Herren des Opernchors (unten), Elias Nuriel Kohl (Steward/Mister Bradley), Ilya Silchuk (Tadeusz), Sarah Mehnert (Lisa), Elke Sobe (Oberaufseherin), Oliver Luhn (1. SS-Mann), Alexander Günther (3. SS-Mann), Andreas Koch (2. SS-Mann), Emma Moore (Marta). Foto: © Candy Welz

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Vor allem durch die zugespitzte Darstellung des Verdrängens über den Gräbern verschieben sich am DNT die Gewichte zu früheren Aufführungen. Trotz der mit ruhiger Konzentration und großer, gefasster Linie singenden Emma Moore als KZ-Internierte Marta und trotz der stillen Monumentalität ihres Schlusssolos steht nicht sie im Fokus, sondern die frühere KZ-Aufseherin Lisa. Wieler und Morabito schärfen mit den ersten Tönen die Streit- und Solidaritätsdynamik Lisas und ihres Ehemannes Walter. Das Paar ersehnt sich Karriereaufwind und das Vergessen ihrer früheren Taten im Zweiten Weltkrieg, welche sie mit trügerischen Halbwahrheiten über das frühere Leben als Pflichtbewusstsein für den NS-Terror rechtfertigen. Diese Anstrengungen und der Wille zum Vergessen fordern ihren Tribut: Walters Gesichtsnerven flattern, Lisa ist eine extrovertiert-kühle Fast-Hysterikerin. Er liest im Investigativjournal „Der Spiegel“, sie in Hitlers „Mein Kampf“. Taejun Sun führt als Walter seinen italienischen Tenor in imponierende Expressionsschärfen. Sarah Mehnert durchleuchtet als Lisa ihre erste ganz großen Partie am DNT mit einer sängerdarstellerischen Glanzleistung. Mehnert fürchtet weder die Darstellung von Gewaltpotenzial als erotischen Kitzel noch die blitzschnellen Wechsel von Gewissenssturzfluten im Größenmaßstab einer Lady Macbeth und hämischer Laszivität. Eiskalte Augenblitze und gemeißelte Gesangslinien zeichnen Mehnerts Leistung aus. 

Die musikalische Leitung zieht mit der Inszenierung an einem Strang. Unter Roland Kluttig zählt jeder koloristische Akzent als essenzielles Partikel des inneren Verdrängungs- und Enthüllungsdramas. Schostakowitschs Walzer knallt aus Weinbergs Partitur und deren trügerischen Wohlfühlflächen für die sich von den mörderischen Entgleisungen der nationalsozialistischen Gräuel frei wähnenden Nachkriegsgesellschaft. Oliver Luhn, Andreas Koch, Alexander Günther und Elke Sobe als durchdacht eisige Doppelgängerin der „Hyäne von Auschwitz“ stehen für die Täter-Exekutiven auf der Anklagebank. Der Schluss gerät kalt, die Darstellung von Martas Geliebtem Tadeusz durch Ilya Silchuk zu einem distanziert schmerzlichem Memento. Lange Ovationen.

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