Folgt man Luis Buñuel, dem Liebhaber von Wagner, von de Sade, von Heringen in Öl, von Klöstern, Bars, Alkohol, Tabak und dergleichen Rauschdrogen mehr – folgt man diesem genialen Neuschöpfer, Wiederbeginner, habe sein und Dalís surrealistischer Skandalfilm „Un chien andalou“ gleich zwei Mal zu Fehlgeburten geführt. Kann man glauben, muss man nicht glauben. Was aber klar ist: Es gehörte Mut dazu, Traumbilder in Filmbilder übersetzen zu wollen. Buñuel träumte: eine Wolke durchschneidet den Mond, eine Rasierklinge ein Auge. Ameisen krabbeln über meine Hand! ergänzte Dalí. Das war neu – im Jahr 1929.
Beim Eröffnungskonzert des jüngsten „Musik der Zeit“-Zyklus des Westdeutschen Rundfunks zeigte sich: Dieser „höchst ungewöhnliche, provozierende Film“ (Buñuel) hat uns heute nichts mehr zu sagen. Man sah dies nicht nur, man hörte es auch. Mauricio Kagel und Wolfgang Rihm mussten wohl Ähnliches gespürt haben, so entschieden wie ihre Antworten ausgefallen waren. Allein Iris ter Schiphorst glaubte, eine Habacht-Stellung einnehmen zu müssen vor diesem historischen Monument der Filmgeschichte, hatte in ihrer „Musik zum Film“ versucht, diese bewusst verstolperten, mit falschen Fährten versehenen Surrealismen zu „übersetzen“. Ein Unterfangen, das – so hatte man jetzt wieder den Eindruck – zum Scheitern verurteilt ist und sein muss. Wolfgang Rihm, der junge, der wilde Rihm aus seiner kraftvollen Frühphase, hatte deshalb zu Recht auch gleich von vornherein darauf verzichtet, die Kongruenz zu suchen, hatte stattdessen den Film nur im Kopf (seiner Hörer) mitlaufen lassen, um in „Bild 1984 (eine Chiffre)“ seinen schneidenden, barbiermesserscharfen Zwischenruf um ein Drittel auf neun Minuten einzukürzen: Botschaft: „Buñuel? – Wer ist Buñuel? Hier spricht Rihm!“ Dies war die Aussage. Und was schließlich Mauricio Kagel angeht, so musste dieser in „Szenario (1982) – Concerto grosso für Streicher und Tonband“ ganz offensichtlich auch das Empfinden gehabt haben, dass das surrealistische Messer an Schärfe eingebüßt hat, dass manches in und an diesem Streifen einfach nur mehr slapstickhaft, albern wirkt, was Kagel durch einen argentinischen Tanzton, verlegt in ein Streichorchester einerseits, durch zugespieltes Hundegebell andererseits grotest-kagelesk (standesgemäß) verstärkt hatte – es hatte die Komik der unfreiwilligen Art. Wir mussten lachen hinter unseren Masken.
So kurzweilig ging sie los, die „Musik der Zeit [1] – Surreale Träume“. Weiter ging’s mit „Musik der Zeit [2] – Vergessen“. Der Corona-Tross begab sich dafür in die Kunststation St. Peter. Den Titel hierfür musste sich Harry Vogt offenbar von Gordon Kampes Auftragswerk „I forgot to remember to forget“ geborgt haben. Auch in dieser jüngsten Arbeit bestätigte sich der Eindruck, dass uns dieser Komponist Rätsel aufgibt. Jetzt hatte er die Neuen Vocalsolisten hinter (Regieanweisung) „sehr schlechten“ Plattenspielern „mit möglichst billiger Nadel“ postiert. Dort legten sie Single-Vinylplatten auf, sangen auf hohen Repetitionstönen „Mutti-Mutti“, wozu weit abgesunkenes, eigentlich niemals richtig aufgestiegenes Kulturgut gereicht ward. „Mama“ von Heintje wurde in den Kirchenraum gespült. So ging das weiter. Wer hier an „Dekonstruktion“ oder so was dachte, lag verkehrt. Gordon Kampe gebührt das Verdienst, die Bearbeitung in den zeitgenössischen Musikdiskurs eingeschleust zu haben. Vorschlag für eine Wiederaufnahme: „The Times They Are a-Changin’“. Würde immerhin Sinn machen.
Auch Carola Bauckholts eigentlich für die Wittener Tage komponiertes „Witten Vakuum“ für zwei Stimmen mit Staubsaugern brachte nur die Erkenntnis, dass die Wiederholung in der Musik zwar wichtig, aber als Selbst-Wiederholung problematisch ist. Berührend blieb in dieser zweiten Station die von der wunderbaren Carolin Widmann als Uraufführung vorgetragene Violinsonate No. 2 von Gloria Coates. Beide, die Solistin wie die Komponistin wie eine einzige Membran, auf die die bedrückenden Ereignisse der Zeit, die ja eine soziale Krise ist, einwirkten, sie zum Erzittern brachten. Das Perkussive, das Schlagen mit den Fingern auf Holz, mit dem Bogenhaar auf die Saiten, die Glissandi – es war ein bewegender Vortrag. Man möchte das Wort dafür nicht gebrauchen, weil es zu plakativ ist, aber eine überzeugendere Corona-Musik habe ich noch nicht gehört.
Der Höhepunkt dieses inhaltsreichen ersten WDR-Konzertzyklus dann am Folgetag wieder im Kölner Funkhaus am Wallrafplatz: „Musik der Zeit [3] – Gesänge“. Ein Titel, der stimmte. Wieder die fantastischen Neuen Vocalsolisten, jetzt mit dem erweiterten ensemble recherche damit befasst, Alberto Posadas’ abendfüllende „Poética del camino“ für sechs Stimmen und zehn Instrumente zur Uraufführung zu bringen. Ein mitreißendes Erlebnis, ein überzeugender Abend, der den einzigen Wermutstropfen darin hatte, dass der Komponist (aus bekannten Gründen) nicht anwesend sein konnte.
Es waren diese „Gesänge“, es war dieses (wiederum für die Wittener Tage vorgesehene) Werk, das den tiefsten Eindruck hinterließ. Wie nur selten in Konzerten neuer Musik hatte man das Gefühl, sämtliche Teile dieser anspruchsvollen Komposition waren „richtig“, am „richtigen“ Platz, in der „richtigen“ Anordnung, Ausführung. Die Intelligenz dieses Stücks in Konzeption und Organisation nötigte Bewunderung ab. Posadas rief uns Schuberts großen Winterreise-Zyklus ins Gedächtnis. Das verfremdete „Muss selbst den Weg mir weisen“ hörten wir gleich beim ersten Vokaleinsatz vom Sopran und Countertenor, womit die Dramaturgie vor Augen stand. Nur, dass Posadas alles anders machte, nichts zitierte, uns keine, und sei es camouflierte Schubert-Bearbeitung zumutete. Posadas hat eine eigene Ton-, Klangsprache gefunden. Frucht seines kompositorischen Nachdenkens, seiner Klangforschung. Die Intelligenz bestand nicht zuletzt darin, dass er uns nicht glauben machen wollte, es wäre möglich, den Weg dieses Wanderers in den Tod mitvollziehen zu können. Es war die Erinnerung an diesen Weg, die Posadas aufrief; die Spuren dieser Erinnerung, die er nachzeichnete, denen er nachhörte. Und wir mit ihm.
Georg Beck
Kein Witten-Vakuum – die Pandemie bringt Neues hervor
Es ist nur ein einziger fehlender Buchstabe, der für sämtliche Brüche dieses Jahres steht: Anstelle der Wittener Tage für neue Kammermusik gab es 2020 einen kompakten „Wittener Tag“. Er bot Raum für gerettete Uraufführungen und spannungsvolle Klanginstallationen.
Das gewohnte Festival im Frühjahr hatte zwar zu großen Teilen ins Radio und ins Netz transferiert werden können, einige der für Witten neu entstandenen Stücke erlebten jetzt aber noch ihre nachgeholte Uraufführung am Spielort Märkisches Museum. Doch auch in Phase Zwei der Pandemie bleibt alles anders: Voranmeldung, Masken und Abstandhalten waren angesagt, der Eintritt dafür kostenlos.
Ein neues Werk von Carola Bauckholt schien mit dem Titel „Witten Vakuum“ auf den Lockdown anzuspielen, von dem die Komponistin Anfang des Jahres allerdings noch nichts hatte wissen können.
Tatsächlich geht es hier um die Saug-, Schnatter- und Gurgelklänge, die zwei Sängerinnen im Verbund mit zwei Staubsaugern erzeugen können – dank dem „Miele Silence“ fast ohne Nebengeräusche. Eine facettenreiche Musik, die allerdings gegenüber zweideutigen Geschlechterstereotypen etwas indifferent bleibt. Der Trompeter Marco Blaauw realisierte zusammen mit sieben Kolleginnen und Kollegen am gleichen Instrument als „The Monochrome Project“ Stücke von Justé Janulyté und Elnaz Seyedi. Janulytés „Unanime“ ist ein ruhiger Kanon, der an die Klangkontinua von James Tenney erinnert, in Seyedis „Felsen – unerklärlich“ klangen schon wegen der Besetzung die Trompetenpartien der „LICHT“-Opern von Karlheinz Stockhausen an, mit dem Blaauw lange eng zusammengearbeitet hat.
Mit konventionelleren Besetzungen kamen die daran anschließenden Werke von Benjamin Scheuer, Johannes Boris Borowski und Ramon Lazkano aus. Den stärksten Eindruck hinterließ Borowskis mutig-schlichtes „Lied“, eine auskomponierte erste Annäherung an das Akkordeon. Als vor dessen Aufführung Regen auf das Glasdach des Museums zu prasseln begann, deutete der Akkordeonist Teodoro Anzellotti lächelnd nach oben: ein Fingerzeig auf die Unberechenbarkeit der rar gewordenen Live-Performance.
Auch die beiden Klanginstallationen, deren Eröffnung Teil des Nachmittags war, wären ohne den begehbaren sozialen Raum des Museums nicht denkbar gewesen. Während Martyna Poznanska die konzentrierte Atmosphäre der angeschlossenen Bibliothek und die vor den Fenstern stumm vorbeifahrenden Autos mit Wald-Soundscapes kontrastierte („Alles, was du dir vorstellen kannst, ist real“), bespielte Christina Kubisch mit der Arbeit „Kupfer Himmel“ mehrere weißgestrichene, nach außen abgeschlossene Museumssäle. Kubisch griff dafür auf die in vielen ihrer Arbeiten vorkommenden Induktionskopfhörer zurück. Hier fingen sie Klänge ein, die in den längs und diagonal durch die Räume gespannten Kupferkabeln zirkulierten. Doch wie Christina Kubisch mit ihren erprobten und bewusst begrenzten Mitteln Klangexkursionen ermöglicht, die Hörenden in Bewegung versetzt und subtile Bezüge zum Beispiel zum ökologischen Fußabdruck des Materials Kupfer herstellt, das macht ihr so schnell niemand nach.
Es mag fast zynisch klingen, aber die Störung durch die Pandemie hat auch in Witten Neues hervorgebracht. WDR-Redakteur Harry Vogt, der das Festival seit vielen Jahren als künstlerischer Leiter verantwortet und prägt, will aus dem Jahr 2020 jedenfalls einen Imperativ mitnehmen in die Zukunft: „Reaktionsfähig bleiben, das ist das Wichtigste.“
Alexander Kleinschrodt