Eigentlich war es so etwas wie ein Schuss aus der Hüfte. Dafür aber hat man erstaunlich genau getroffen. Im Grunde nämlich gab es kaum einen Anlass für dieses erstmalig und hoffentlich nicht letztmalig veranstaltete musica viva Festival 2008, das sich über vier Wochenenden mit zehn Konzerten, Installationen und einem Symposion zu Fragen des Experimentellen in der Musik vom 25. Januar bis zum 15. Februar erstreckte. Die verschämt vorgeschobene zehnjährige Amtszeit des künstlerischen Leiters Udo Zimmermann kann wohl kaum als Begründung für so ein Großprojekt herangezogen werden. Der Publikumszuspruch hat gewiss auch die Veranstalter überrascht (nahezu alle Konzerte waren ausverkauft, ein Kammerkonzert, freilich in beengterem Raume, musste sogar wiederholt werden, um die Kartenwünsche zu erfüllen). Umso schöner! Denn so wurde eher beiläufig ein wichtiger Beweis erbracht: Ein Festival zeitgenössischer Musik braucht keine Begründung, es gibt genug Menschen, die es erleben wollen, es nimmt Züge von Normalität an.
Das ist es ja, was immer wieder von den Hütern der Tradition ins Feld geführt wird (schon Mahler meinte zum Wiener Musikleben: „Was ihr als Tradition bezeichnet ist nicht anderes als eure Schlamperei!“): Neue Musik ist nicht vermittelbar, uns bleibt das Publikum weg und so weiter. Nun kann es schon sein, dass diesen Veranstaltern ihr von ihnen zurechtgestutztes Publikum weg bleibt, aber Fakt ist, dass sich mittlerweile andere Interessenkreise formierten. Anzumerken wäre, dass es hierbei keineswegs um ein Gerangel um die besseren Plätze zwischen Traditionswächtern und Neuigkeitsfixierten geht. Es geht um Wahrnehmung von Musik in ihrer Ganzheit, in der sie nicht zum Schönstunden-Füller degradiert ist, sondern als ästhetische Botschaft erlebt wird. Es geht um Weite. Wohl keiner, der sich von Feldman, Lachenmann oder Kurtág angesprochen fühlt, wird deswegen Beethoven oder Mahler gering schätzen, sondern sogar die Intensität der Wahrnehmung gegenüber diesen Komponisten steigern, umgekehrt aber ist das beim jetzigen so genannten normalen Publikum durchaus der Fall.
Das war vielleicht die wichtigste Botschaft des musica viva Festivals: Es markierte den Beginn eines Paradigmenwechsels. Denn sonst war durchaus nicht alles rund, es war eben doch ein schneller Schuss aus der Hüfte. Kritisch anzumerken wäre, dass die programmatische Zusammenstellung in den meisten Fällen Züge des wenig Stimmigen oder auch Zufälligen annahm. Ein Gesicht hatte dieses Festival nicht, konnte es auch nicht haben mit der Vorgabe an die drei beteiligten ARD-Gastorchester (vom SWR, WDR, sowie die Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern, daneben noch ein erfrischendes Konzert Alte Musik/Neue Musik mit dem Dresdner Kreuzchor und dem Ensemble Courage mit einem sehr innigen Chorwerk „Pilgerfahrten“ für Kinder und Erwachsene von Chaya Czernowin), einfach mitzubringen, was man gerade im Gepäck hat. Bösartig könnte man bemerken, dass Angebotsware auf den Tisch kam. Freilich war diese der Not der schnellen Tat geschuldet und letztlich erwies sich der Aufriss des Leistungsspektrums von ARD-Orchestern auch in seiner Zufälligkeit als durchaus spannend und perspektivenreich. Dazu trug auch maßgeblich das eigene BR-Orchester bei, das mit Stockhausens „Mixtur 2003“ (herausragend vor allem die elektronische Klanggestaltung durch das Freiburger Experimentalstudio) und mit Bernhard Lang (UA des Zitherkonzerts „monadologie I“), Karl Amadeus Hartmann (Erstaufführung der Symphonie L’Œuvre von 1937/38) sowie einem Chor-Orchesterwerk von Scelsi zwei markante, künstlerisch exorbitante Randpflöcke ins Festival setzte. Die Referenz an den musica-viva-Gründer Hartmann hat ein Werk aus schwierigster Zeit ausgegraben, das in seiner formalen Stringenz, klanglichen Wucht und in der Tiefe seiner Inspiration erschütterte. München, das sich so gerne mit Strauss und Orff schmückt, darf stolz sein, einen solch markanten und unerschütterlich eigenständigen und schöpferisch Stellung beziehenden Komponisten hervorgebracht zu haben. Gegen die Dringlichkeit seines Tons hatte es Bernhard Langs wagemutiges Konzert für eine neu entwickelte E-Zither mit sich selbst generierenden Loop-Modellen über zwölf unterschiedliche Sound-Strukturen nicht leicht. Es entwarf vielleicht etwas katalogartig perspektivische Klangverflechtungen, in denen ein von der Improvisation her kommender melodischer Duktus vorherrschte.
Die große Emphase der Orchestermusiker blieb immer spürbar, und auch dies war eine Beobachtung, die manche Vorurteile wohltuend korrigierte. Aus dem BR-Orchester formierte sich denn auch ein kleines Ensemble für Neue Musik, das ein eigenes Kammerkonzert für das Festival zusammenstellte. Mit Arbeiten von Liza Lim, Kaija Saariaho, Rebecca Saunders, Bojidar Spassov und Gerhard Stäbler wurde zudem eine große ästhetische Spannweite auf erstaunlichem spielerischem Niveau aufgeschlagen. Wichtiger aber: Auch unter den Musikern in den Orchestern wächst die Bereitschaft, sich den Herausforderungen zeitgenössischer Techniken zu stellen.
Auf zwei Uraufführungen in einem Konzert „Musik und Szene“ sei noch verwiesen. Adriana Hölszky schrieb mit „Countdown“ eine große Gesangsszene (Szenisches Konzertstück) mit exorbitanten Anforderungen an die Gesangsstimme (Daniel Gloger mit überwältigender Verausgabung!). Es war ein Gang durch österreichische Obdachlosenheime in schonungsloser Schärfe und Brisanz, zugleich mit dem lakonischen Unterton des depravierten Beobachters. Gegen diese Wucht konnte der „Boxgesang“ von Michael Lentz und Uli Winters mit lapidaren Kontaktrhythmen eines auf einen Sandsack einschlagenden Boxers kaum bestehen. Etwas zu einfältig wirkten die von den Inszenierungsideen im Umfeld von Boxkämpfen angeregten Einlagen, bei denen nur der virtuos souveräne Auftritt eines Beatboxers (Dalibor) zu bestechen wusste, was freilich kaum dem Konto von Lentz/Winters gutzuschreiben war.
Neue Musik auf neuen Wegen! Das Festival wurde zum Ereignis, das München über Wochen hinweg in kreativer Spannung hielt. Es war ein Mutmacher-Festival, eine Aufforderung, den Musikbetrieb neu zu denken. Über das gebotene Spektrum hinaus (hier wäre, wie gesagt, eine inhaltlich genauer konturierende Hand bei eventuellen Folge-Veranstaltungen durchaus wünschenswert) war dies die eigentliche Botschaft der groß dimensionierten Veranstaltung.
Und dies wurde auch von den Verantwortlichen beim BR, insbesondere beim Hörfunkdirektor Johannes Grotzky so gesehen, wie er im Abschlusskonzert bei der Verleihung der BMW-Kompositionspreise an Caspar de Gelmini und Pierre Stordeur (2. Preis), Heera Kim (3. Preis) und an Miguel Farias und Michel Roth (Förderpreis) nachdrücklich bekundete. Weitere Taten in diese Richtung mögen folgen. Das Publikum steht bereit!