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Verzweifelte Collage aus Flucht und der Gier der Annäherung. Szene aus „The Io Passion“. Foto: Festspiele Bregenz
Verzweifelte Collage aus Flucht und der Gier der Annäherung. Szene aus „The Io Passion“. Foto: Festspiele Bregenz
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Mythische Durchdringung der heutigen Welt

Untertitel
Harrison Birtwistles Oper „The Io Passion“ bei den Bregenzer Festspielen
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Wenn Zeus die schöne Io begattet, geben sie einen Hoketus (den mittelalterlichen Stottergesang) aus den Vokalen „A“ und „I“. Und Göttermutter Hera droht, ihm im Wiederholungsfalle die Rute in Stücke zu hauen, was beim Berufshengst Zeus durchaus einige Irritationen hervorruft. Das alles freilich geschieht nur im Traum. Was war voraus gegangen? Auf der Insel Lerna begegneten sich in heutigen Tagen ein Mann und eine Frau. Die Liebe war aufgeflammt, so heftig, dass auch die begrabenen Götter von Lerna geweckt wurden und sich an den alten Zeus-Io-Mythos erinnern. Zeus konnte sich in der mythenbildenden Zeit vor der Entdeckung nur aus der Schlinge ziehen, indem er Io in eine weiße Kuh verwandelte, die sich die misstrauische Hera als Geschenk erbat. Der hundertäugige Wächter Argos sollte die Kuh bewachen, wurde aber Aug um Aug eingeschläfert. Voller Zorn schickte Hera der flüchtenden Kuh Io, gleichsam als Fluch, eine Rinderbremse hinterher. Dieser Fluch wurde durch die Liebestat der beiden Protagonisten wieder erweckt.

Wieder zu Hause leidet die Frau unter dem Ferienerlebnis. Sie sucht Abstand, bleibt in innerer Unruhe, immer wieder von einer launischen Fliege belästigt. Der Mann aber will den Kontakt wieder knüpfen, steht draußen vor der Tür der Frau, traut sich, obwohl er dazu ansetzt, nicht zu klopfen, wirft einen Brief ein. Drinnen wird die unruhig träumende Frau vom fallenden Brief geweckt, sie liest ihn, entschließt sich zu einer Antwort. Dieser Innen-Außen-Vorgang zieht sich in mehrfacher Wiederholung und leiser Abwandlung wie ein Strang durch Birtwistles (der am 15. Juli seinen 70. Geburtstag feierte) neue Oper „The Io Passion“, die im Juni beim Aldeburgh-Festival uraufgeführt wurde und nun bei den Bregenzer Festspielen aufgenommen wurde.

Regisseur Stephan Langridge hat eine einfache und in ihrer Einfachheit starke Bildidee gefunden: Links auf der Bühne sieht man das Haus mit Backsteinfassade, Fenster und Tür von außen, rechts spiegelsymmetrisch von innen, als hätte man die Wand in der Mitte zu zwei Scheiben durchgesägt und dann aufgeklappt. Die Symmetrie ergreift auch die Darsteller. Blickt die Frau mit dem Rücken zum Publikum auf der rechten Seite aus dem Fenster, dann sieht man links die Frau mit dem Gesicht zum Publikum aus dem Fenster schauen. Stellt sie die Stehlampe an, dann macht dies auch ihre Spiegelgestalt und Licht dringt von dort auf die Straße. Der Mann verbirgt sich, wird also durch das Fenster aus dem Innenraum nicht gesehen. Wirft er den Brief durch den Türschlitz, dann fällt der Brief gleichzeitig auf der anderen Seite hinein. Im Verlauf der von immer drastischeren Götter-Träumen der Frau durchbrochenen Wiederholungshandlung löst sich die Spiegelsymmetrie immer mehr auf, innen und außen verschwimmen, ebenso die Korrelation zwischen Mann und Frau und ihrer Doppel- und Tripelgestalten.

Das ist ein auch musikalisch faszinierendes Konzept. Birtwistle hat hier vielleicht am entschiedensten verwirklicht, was ihm immer schöpferisches Anliegen war: die mythische Durchdringung der heutigen Welt, die Bildung von Archetypen, die in immer anderer Gestalt in der Dialektik von Identität und Nicht-Identität die Geschichte durchziehen. Diese Konstellation hat er auch seinem Librettisten Stephen Plaice vermittelt, der sie mit versierter, manchmal wohl auch zu plakativ versierter Hand in Worte setzte.

Die Musik aber nimmt eine ganz merkwürdige, auch im Kontext von Birtwistles Œuvre singuläre Zwischenstellung ein. Verlangt wird nur die kleine Besetzung aus Streichquartett (Diotima String Quartet) und Klarinette (Alan Hacker), und in dieser Intimität gelang ein Vexierbild aus theatraler Nähe von sirrender, auch lautmalerischer Kompaktheit und einer der Filmmusik nahen Hintergrundspräsenz. Sie drängt sich fast nie opernhaft nach vorne, sondern bleibt in der Schwebe zwischen konkret direkter und nur hüllkurvenartiger Wahrnehmung. Freilich steuert die Musik in geradezu nervöser gestischer Anteilnahme das Bühnengeschehen, allein schon indem sie gleichsam choreographische Zeichen für die Spiegelaktionen gibt.

Und dennoch dämmert sie zugleich in einer zwischenbewussten Ebene. Sie nimmt die Farben des Geschehens auf, wird zum schwirrenden Flügelschlag der Bremse, färbt sich bukolisch ein im rüden Maskenspiel der Io-Begattungen, die immer mehr Züge von volkskultischer, rauhnachtartiger Direktheit annehmen. Immer wieder aber zieht sie sich zurück zu allein seismographischer Nachzeichnung, die im Unterbewussten wahrgenommen wird. Hierin aber gelingt ihr eine verblüffende Nähe zum Mythos selbst. Er ist ständig zugegen, steuert Verhaltensnormen und Emotionen, zugleich aber wird er nie objektiv konkret. Ein intellektuell begriffener Mythos ist keiner mehr. Er wirkt da, wo die Klarheit aussetzt, dann aber umso nachdrücklicher. Seit Io und Zeus, seit dem eifernden Fluch der Hera, die sich am Geschehenen rächt, ist die Beziehung von Mann und Frau getrübt und kontaminiert. Die Empfindungen, das Wollen laufen auseinander.

Im Untergrund laufen Kraftströme, die die Wirklichkeit nicht kennen will. Auf dieser Ebene verläuft die Musik Harrison Birtwistles. Ein spannendes Konzept, das den Zuschauer (der alles, Bild, Spiegelbild, Doppelung und ihre Konstellationen sieht) und Zuhörer (der im Unterbewussten grummelnde Kräfte zwischen drastischer Klarheit und in sich verfließenden Energieflüssen wahrnimmt) selbst in der Unsicherheit belässt. Kuh, Stier und Bremse: eine verzweifelte Collage aus Flucht und der Gier der Annäherung.

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