Nach 34 Jahren in der Roten Fabrik am Zürichsee ist man ins innerstädtische Kanzleiareal umgezogen. Außerdem wird das Festival neuerdings von wechselnden Musikern betreut, auch weil sich der langjährige Festivalleiter Fredi Bosshard in den verdienten Vorruhestand verabschiedet hat. Das Programm – elf Konzerte an drei Tagen und drei unterschiedlichen Orten - präsentiert sich laut Lucas Niggli als „Hybrid aus Jazz, Rock und neuer Musik“. Der aus dem benachbarten Uster stammende Schlagzeuger und Komponist muss wissen wovon er spricht, schließlich ist er der erste Kurator des neuen „Taktlos“.
Über Jahrzehnte galt Taktlos gemeinsam mit Festivals wie den Konfrontationen in Nickelsdorf, dem Ulrichsberger Kaleidophon oder dem mittlerweile eingestellten Berliner Total Music Meeting als eines der wichtigsten der musikalischen Avantgarde. Gemeinsam mit dem Label Intakt lieferte es die Begleitmusik zum musikalischen Aufbruch im Jazz und der freien Musik. Doch in den letzten Jahren traten man etwas auf der Stelle – was sich auch in der sinkenden Resonanz der Hörer widerspiegelte. Für die 35. Ausgabe übernahm nun eine junge Crew unter dem Vorsitz des Saxophonisten Tapiwa Svosve das Zepter. Sie möchte „das Taktlos als eigenständiges Festival für kreative Musikformen erhalten und die Arbeit der Pioniere fortschreiben“.
Eine wichtige Neuerung ist, dass die jeweiligen Kuratoren zumindest einmal pro Festival selbst auf der Bühne stehen. Lucas Niggli hält sich gerne daran und trommelt gleich doppelt: Am ersten Abend betritt er mit Steamboat Switzerland die Bühne des Kanzlei-Clubs: Das Trio bestehend aus Niggli, Domink Blum (org) und Marino Pliakas (b) gehört zu den variabelsten und schrägsten der europäischen Szene. Die Einflüsse reichen von Arnold Schönberg über Mischa Mengelberg bis „Deep Purple in Rock“. Oft tauchen die verschiedenen Stile im selben Stück auf und das meist nur für kurze Zeit. Mitunter geht es dabei sehr auch brachial zu. Selbst Donaueschingen kann mittlerweile ein Lied davon trällern.
Quietscht bis der ganze Raum vibriert
Mindestens die Hälfte der Musik von Steamboat Switzerland ist notiert. Messerschafe Breaks, Polyrhythmik- oder -metrik und Uptempo bestimmen das Geschehen. Es hämmert, dröhnt, quietscht bis der ganze Raum vibriert. Die Phasen der Erholung sind nur kurz: Nach dem Sturm ist vor dem Gewitter. Die Stücke gehen fließend oder besser: reißend ineinander über. Themen werden durch Handzeichen oder laute Schreie angekündigt und ebenso abrupt beendet. Je nachdem wer gerade eine Idee hat, grätscht dazwischen. Ein wilder Ritt, der Jubel erzeugt wie bei einem Heimspiel - aber was heißt hier wie?!
Im Trio mit dem Pianisten Alexander Hawkins und der Saxophonistin Matana Roberts verzichtet Niggli komplett auf komponierte Parts. Es geht virtuos zu, mitunter zeigen die Musiker allerdings zu viel von ihrem Können. Hier und da hätte man vor allem Hawkins und Niggli einige längere Pausen gegönnt, damit die unversöhnlichen, getragenen Saxophonklänge Matana Roberts mehr Zeit und vor allem mehr Raum gehabt hätten, sich vollends zu entfalten.
Roberts hatte zuvor bereits einen kurzen aber eindrucksvollen Soloauftritt absolviert: Interaktive Atemübungen und klagende Saxophonpatterns werden begleitet von einer Stimme, die zwischen Erzählung und Gospel hin und her schwingt. Dazu flimmern zum Teil verfremdete Bilder über die Leinwand, die Geschichten aus 300 Jahre Unterdrückung und Emanzipation der afroamerikanischen Community in den USA erzählen. Das Konzert fügt sich ein in einen zwölf Alben umfassenden Zyklus namens „Coin Coin“, der sich mit dem großen, immer noch aktuellen Thema auseinandersetzt. Roberts selbst stammt aus dem Umfeld der Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), einem „Play Tank“, dem so wichtige Musiker wie Muhal Richard Abrams, Anthony Braxton, Leroy Jenkins, George Lewis oder Roscoe Mitchell entwachsen sind.
Neue Musik an neuen Orten
Den Auftakt hatte am Donnerstag mit La Berge Dramm – Pace – Frey eine Formation gemacht, deren Protagonisten eher der zeitgenössischen Musik zuzurechnen sind. Auf dem Programm standen zwei Stücke der Komponistin Galina Ustwolskaja, Trio (1949) und Violin Sonata (1952), sowie die Komposition Haut Jorat (2009) von Jürg Frey. Während „Trio“ und „Haut Joart eher flüchtig vorgetragen werden, hinterlässt die Interpretation von „Violin Sonata“ tiefere Spuren. Die Komposition selbst ist als Duett angelegt, Frey betätigt sich als Assistent der Notenblätter. Dramm stimmt ein Ostinato an, das vom Klavier leicht verzögert, teils variiert, teils unvollständig wiederholt wird – es klingt wie ein Echo aus der Ferne. Das Stück entwickelt einen Sog, dem man sich gegen Ende kaum noch entziehen kann. Ähnlich beeindruckend kommt Dramms Solo-Konzert im benachbarten Xenix Kino daher. Auf Violine, Kickdrum und Pedal Organ interpretiert sie fragile, dezente Barockstücke. Das kleine, intime Kinogebäude – eine ehemalige Schulbaracke aus Holz - verstärkte die melancholische Stimmung.
Eine Entdeckung war das Ensemble of Nomads um Emilio Guim (git, elec, comp), Talvi Hunt (p, elec), João Carlos Pacheco (perc) und Hannah Walter (v). Die vier klassisch geschulten Nachwuchs-Instrumentalisten experimentieren mit elektroakutischen Klängen und Visuals, und bewegen sich dabei recht flexibel zwischen zeitgenössischer Musik und Noise. Obwohl der größte Teil der Musik notiert ist, bleibt Raum für kurze Ausflüge ins Reich der Improvisation – ein durchaus sinnvolles Stilmittel, um die Konzentration aufrecht zu erhalten. Auch wenn es hier einige unvermeidbare Längen gab, dürfte man von den Musikern noch einiges hören.
Ohne Notenständer kommt das Trio Radian aus. Die elektronischen Sounds und Patterns stammen größtenteils von der E-Gitarre, dem E-Bass und dem Schlagzeug. In ihrem einstündigen Auftritt bleiben die Wiener allerdings hinter der Intensität zurück, die sie im vergangenen Jahr beim „Music Unlimited“ in Wels gezeigt haben - was aber vor allem an der Lautstärke- oder eher -schwäche lag.
Perfekt auf Musik und Gäste zugeschnitten
Die neuen Spielorte erwiesen sich dennoch als gute Wahl: Größe und Ambiente waren perfekt auf Musik und Gäste zugeschnitten. 160 Leute kamen am ersten Abend, etwas weniger jeweils an den beiden Anderen. Die zum atmosphärischen Nachtclub umgebaute Turnhalle wirkte gut gefüllt aber nicht zu voll. Der Ort schien zudem dafür zu sorgen, dass auch jüngere Hörer, die ansonsten er der DJ-Kultur zugetan sind, den Weg zum Taktlos gefunden haben. Auch wenn die Ü60-Generation noch die Mehrheit stellte, waren rund ein Drittel der Besucher eher dem studentischen Alter zuzurechnen. Für eine Szene, die seit Jahren mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat, eine positive Nachricht.
Lediglich an der Dramaturgie der Abende sollten die Veranstalter noch etwas arbeiten. Nur kurze Zeit nachdem an den Abenden der letzte Ton auf der Bühne verklungen war und die Ovationen endeten, wurden Musiker wie Publikum höflich aber rasant von den Gastgebern hinaus gebeten, um den Club für die nächste Tanzveranstaltung zu präparieren. Aber das kann man vielleicht noch unter Kinderkrankheiten abtun. Im doppelten Sinne.