Die Musikstadt Stuttgart lässt mit zweien neuen Musikchefs aufhorchen. Vor wenigen Wochen gab Teodor Currentzis sein Antrittskonzert beim SWR Symphonieorchester, jetzt folgte Cornelius Meister, der Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart, mit seinem ersten Sinfoniekonzert mit dem Staatsorchester. Wie Currentzis gab Meister seine Visitenkarte mit einer Mahler-Sinfonie ab.
Eine Woche nach seinem Einstand in der Oper, einem „Lohengrin“, bei dem Cornelius Meister seine Wagner-Kompetenz bewiesen hatte (der Lohengrin fehlte noch, alle anderen Hauptwerke hatte der 38-Jährige bereits dirigiert) und jubelnd gefeiert worden war, setzte er nun auch im Konzertsaal auf Neubeginn. Nach seinem Vorgänger Sylvain Cambreling, einem die Strukturen ausleuchtenden Musiker, der allerdings selten mit Atmosphäre und Glanz aufwartete, setzte Meister fühlbar auf einen frischen Musikgeist.
Und der Hannoveraner wagte einen kühnen Beginn: John Cages „4‘33““, dieser Musik der Stille von 1952. Nach dem Auftritt der Orchesterbesetzung für die folgende sechste Sinfonie von Joseph Haydn, „Le matin“, kurzem Einstimmen, betrat Meister, ganz nach dem üblichen Ritual, das Podium, verbeugte sich. Auf dem Podest wandte er sich um, und verharrte dort bei rasch sich im Publikum einstellender konzentrierter Stille. Es wurde, wenn man so sagen will, eine etwas verschleppte Aufführung der drei Werksätze mit identischem Titel „Tacet“ – statt 4 Minuten 33 Sekunden, dehnte Meister diese Reflexion über Nichts, Sein und Musik auf üppige rund 5 Minuten 45. Es schadete nicht.
Wie unter Seidenpapier
Wie fein kam da erst recht der Pianissimo einsetzende Beginn von Haydns Geniestreich zur Geltung. Aus dem Nichts dämmerte in den ersten Violinen der Morgen auf, in Terzschichtung traten die zweiten Violinen hinzu: erste Sonnenstrahlen, intensiver werdend – Cornelius Meister steuerte das ganz delikat und duftig, doch rhythmisch immer akzentuiert. Wie unter Seidenpapier strömte das Adagio, ohne in den Strukturen verwischt zu sein. Lebhaft und plastisch das Menuett, in dem die Quintbässe der Violoncelli, schön leer und gerade genommen, das Geschehen im bäuerischen Hier und Jetzt erdeten. Frisch, vergnügt stürzten sich die Musiker in die solistischen Aufgaben für Flöte, Fagott, Violine, die zwei Bratschen sowie Violoncello und Kontrabass. Da vermisste man keine alten Instrumente, auch wenn mancher Vertreter historischer Aufführungspraxis die Meinung vertritt, Haydn dürfe heute nicht mehr auf modernem Instrumentarium erklingen. Wer kann, wie Meister, der kann. Damit hatte der GMD zwei Akzente gesetzt: Unter dreihundert Jahren Musikgeschichte macht er’s nicht, für die er sich zuständig fühlt, und die musikalische Gegenwart wird eine Rolle spielen in den künftigen Programmen.
Wer kann, wie Meister, der kann
Fraglos richtete sich die vornehmliche Aufmerksamkeit auf das Hauptwerk: wie würde es der Neue stemmen? Wie Teodor Currentzis, der nur wenige Wochen zuvor im gleichen Saal sein Antrittskonzert beim SWR Symphonieorchester mit einer Sinfonie von Gustav Mahler bestritten hatte, der Dritten, fiel Meisters Wahl auf diesen Komponisten – und wohl die heikelste Sinfonie, die siebte. Warum? Mahler selbst meinte doch: „Es ist mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters“. Tatsächlich fehlen in ihm die Einbrüche und „Durchbrüche“ (Theodor W. Adorno), in denen Mahler in den vorangegangenen Sinfonien dem erzählerischen Geschehen den Boden unter den Füßen wegreißt. Besonders der Schlusssatz der Siebten, wie der der fünften Sinfonie ein Rondo, wirkt in seiner beinahe schematischen Bauweise, der fehlenden thematischen Durcharbeitung und Durchführung eines eh dürftig erscheinenden Materials irritierend schlicht affirmativ in C-Dur. Adorno urteilte: „Ein ohnmächtiges Missverhältnis zwischen der prunkvollen Erscheinung und dem mageren Gehalt des Ganzen wird man auch bei angestrengter Versenkung kaum sich ausreden lassen.“ Etwa später heißt es in seinem Mahler-Buch von 1960: „Mahler war ein schlechter Ja-Sager. Seine Stimme überschlägt sich, wie die Nietzsches, wenn er Werte verkündet, aus bloßer Gesinnung redet…“
Die Kälte genauester Exekution des Notentextes
Das Schwierige für den Interpreten ist nun: setzt er auf die prunkvolle Erscheinung, ein Orchesterzauberer wie Mariss Jansons neigt dazu, oder versucht er wie Michael Gielen die überdrehte Leere darzustellen? Cornelius Meister wählt die Kälte genauester Exekution des Notentextes, die in besten Momenten das Feuer des Erkennens erzeugt. Das blendend aufgelegte Staatsorchester folgt ihm dabei mit großer Aufmerksamkeit und glücklicherweise an entscheidenden Positionen mit souveräner Technik und Persönlichkeit: ohne einen erstklassigen Solo-Hornisten und Solo-Trompeter braucht man diese Sinfonie gar nicht erst anzusetzen. Philipp Römer und Sebastian Berner sichern dem Abend in dieser Hinsicht den Rang. Beinahe starre Marschrhythmik zu Beginn des Kopfsatzes hatte noch fürchten lassen, dass sich Meister auf das wichtige Geben und Nehmen in dieser Musik zu wenig einlassen würde. Doch das Atmosphärische stellte sich rasch ein, denn Meister animierte in den seitensatzartigen Episoden der Durchführung (Takte 109 bis 133) die hohen Streicher zu intensiver Agogik, mal heftigem, mal warmen Ton. Analog dazu, und noch gesteigert, mit ergreifender Wirkung die Rückführung zur Reprise mit dem himmlischen Gesang der Violinen in höchster Lage; zunächst eine visionäre Ewigkeitsschau, die übergeht in eine geradezu erotische Erregung – hier stimmte alles. Einzig der Zusammenbruch der thematischen Selbstbehauptung vor der Coda, wenn das tiefe Blech sich ohnmächtig ineinander bohrt, hatte noch nicht die Unausweichlichkeit größter Aufführungen. Wunderbar entfalteten sich die beiden Nachtmusiken, immer am Text mit vielen Farb- und Dynamikwerten orientiert. Im zweiten Satz kam die von je meisterliche Cellogruppe des Staatsorchesters mit seidigem Glanz und noblem Legato zum Tragen (ab Takt 82) und wie mit dem Seziermesser trennte Meister die drei heterogenen motivisch-thematischen Schichten bei Ziffer 92, dass sich ein verstörend gespensterhafter Moment ins Nachtidyll schob. Der Dirigent hatte wie bei seiner „Lohengrin“-Einstudierung hörbar an Details gearbeitet, verlor aber nicht den formalen Überblick, band die Sätze zusammen. Straff, akzentuiert das Scherzo, aber viele kleine Momente, die aufhorchen ließen, wie die wollüstigen Schweller im tiefen Holz sowie den Bratschen und Celli bei Ziffer 201. Im Finale nun verfolgte Meister eine ehrliche Strategie: er schönte nichts, wenn die Faktur beinern und hohl wurde, der Hörer geradezu peinlichen Empfindungen ausgesetzt wird (Ziffern 282 und 283). (Falsche) Geborgenheit konnte so nicht aufkommen und die Paradoxie dieses Sinfoniefinales: „Meistersinger“-Wiese, Janitscharen-Exotik, Ruinen von Choralpathos, blieb unaufgelöst.
Ein Konzert, das ein Versprechen auf produktive Jahre gab. Reiche Musikstadt Stuttgart also: Teodor Currentzis, Cornelius Meister, seit einiger Zeit oder auch länger schon überregionale Aufmerksamkeit stiftend: Hans-Christoph Rademann von der Bachakademie, Frieder Bernius und sein Kammerchor, der Philharmoniker-Chef Dan Ettinger sowie von der kommenden Saison an Thomas Zehetmair an der Spitze des Kammerorchesters – da bleiben keine Wünsche offen.