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Nachtschicht in den Stunden des Neumondes

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Die Turbinenhalle eines Kraftwerkes als künstlerische Wiederverwertungsanlage
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Lange vor der Ausfahrt Vockerode schiebt sich das Kraftwerk mit seinen vier Schornsteinen ins Blickfeld. Vier mal 142 Meter – die sind nur schwer zu übersehen. Ein gigantischer Dampfer scheint dort den Mischwald rechts der A9 zu zerpflügen, ein Dampfer, dessen Rumpf eine 300 Meter lange Turbinenhalle ist. Allein: Das Bild stimmt schon deshalb nicht, weil den Schornsteinen der Rauch, Symbol industrieller Pros-perität, verloren gegangen ist. 1937 bis 1940 gebaut, 1953 erweitert und zu DDR-Zeiten Zentrum der Energie, hatte das Braunkohlekraftwerk Vocke-rode nördlich von Dessau bald nach der Wende ausgedient und wurde 1994 abgeschaltet. Über Nacht war eine Industrieruine entstanden, die neben arbeitslosen Menschen auch die Frage nach dem Danach hinterließ. Die Kunst kam ins Spiel.

Inzwischen haben zwei Landesausstellungen 120.000 Menschen nach Vockerode gebracht, bildende Künstler, Theatergruppen und Musiker die Turbinenhalle vorübergehend in Besitz genommen. Sogar Teil der sogenannten EXPO-Korrespondenzregion im sachsen-anhaltinischen Städtedreieck Wittenberg-Dessau-Bitterfeld ist das Kraftwerk geworden. Trotzdem ist immer noch unsicher, ob der Koloss nicht doch abgerissen wird, um – wer weiß – vielleicht einem weiteren Einkaufszentrum Platz zu machen. Daran wird wohl auch Eberhard Klokes ehrgeiziges Expo-Projekt nichts ändern, das Anfang Juli für zwei Abende Leben in die Ruine brachte.

Kloke, ehemals Generalmusikdirektor in Ulm, Freiburg, Bochum, Nürnberg und Spezialist für zeitgenössische Musik, versteht sich mittlerweile als „Projektemacher“. In dieser Funktion hat er elf Projektmodelle entwickelt, die zusammen „Der Imaginäre Raum“ heißen und Musik, Licht und bildende Kunst in unterschiedlichsten Räumen zum Gesamtkunstwerk verschmelzen wollen. Die von Kloke geleitete Performance in Vockerode hieß frei nach der sinfonischen Dichtung von Nicolai Roslawez „In den Stunden des Neumondes“, wobei sie praktischer Weise eine Variante der Show „Der Gelbe Raum“ war, die am 30. September zu den Weltmusiktagen in Luxemburg aufgeführt wurde.

Nun ist gegen künstlerische Wieder- beziehungsweise Vorverwertung nicht unbedingt etwas zu sagen. Allerdings war deutlich zu merken, dass dieses Projekt erst nachträglich auf Vockerode zugeschnitten wurde und den gigantischen Raum nur teilweise füllen konnte. Was umso ärgerlicher war, als das Programmheft überquoll vor Versprechungen, die man alle schon irgendwann gehört hatte und die ob ihres Anspruchs zwangsläufig nur ungenügend erfüllt wurden. Vollmundig wurde da ein „grenzüberschreitender inhaltlicher Entwurf für eine konzeptionelle, aufführungspraktische sowie rezeptionsästhetische Erneuerung der Musik- und Theaterszene“ angekündigt, in dem Klaus Merkels riesenhaftes Tafelbild „CUT EXPO EXTRAS“ gegenüber Musik und Licht „ein ebenbürtiges Input-Medium“ darstellen sollte. Das klang beinahe so, als hätten die Veranstalter dem Publikum eine eigene Meinung nicht zugetraut oder sich vor einer solchen gefürchtet.

Nachdem der erste Abend mit Werken von Webern, Schönberg, Ives und Schubert, mit der Uraufführung von Moritz Eggerts Melodram „Der Andere“ und Gerhard Stäblers „spatial ayres“ eher kammermusikalische Dimensionen hatte, folgte am zweiten Abend die orchestrale Großvariante mit dem Philharmonischen Staatsorchester Halle, dem Ensemble United Berlin, den „Hallenser Madrigalisten“ und drei Solisten, denen das Publikum zu zwei verschiedenen Spielorten folgte.

Es begann vielversprechend in der unteren Ebene des Kraftwerks, dessen Aufteilung in Seitenschiff, Mittelschiff, Empore und Lichtgaden nun Gedanken an den verlassenen Tempel einer Arbeitsreligion beschwor. Während Alexander Mossolows Maschinenmusik „Die Eisengießerei“ (1926) in der Ferne im Rhythmus des Fortschritts stampfte und hämmerte, lieferte Charles Ives’ „Unanswered Question“ eine verinnerlichte Kritik zur maschinellen Euphorie: Aus verschiedenen Ecken tasteten Trompeter mit ihren musikalischen Fragezeichen die Turbinenhalle ab, deren wahre Größe das Ohr viel eher als das Auge fassen konnte. Ganz im Vordergrund rief sich ein Flötenquartett mit bohrenden Kommentaren in Erinnerung, zwei Orchester unterlegten einen Streicherteppich. Von der Empore schließlich schickten die Hallenser Madrigalisten den zweiten Satz aus John Taveners Raumkomposition „Ikon of Light“ (1983) herunter, deren dicht gewebter atonikaler Satz samt Orgelpunkt von einem unten postierten Streichtrio erwidert wurde.

Die Enttäuschung begann auf dem Weg in die obere Kraftwerksebene mit einer Vielzahl von Monitoren, die Klaus Merkel bei der wenig aufregenden Arbeit an seinem von Farbfeldern bestimmten Gemälde zeigten. Im Programmheft war von „Videoinstallation“ die Rede. Zu Ravel/Mussorgskys „Bildern einer Ausstellung“ passierte dann außer Musik erstmal nichts, nimmt man die Schwalbenfamilie aus, die das Kraftwerk bewohnt und zur Musik reizendes Gezwitscher beisteuerte. Immerhin hatte man da noch eine prächtige Sicht bis zum anderen Ende der Halle. Zu Gerhard Stäblers uraufgeführtem Orchesterwerk „energy – light – dream“ wurde jedoch Merkels Gemälde (Format: 7 mal 13 Meter) auf Schienen so weit ins Blickfeld geschoben, dass die optische Raumwirkung schließlich völlig verloren ging.

Stäblers heterogenes Auftragswerk lebte von der Gegensätzlichkeit, von unterschiedlichsten Ensembleformen und Kompositionsverfahren, die mit verschiedenen Bandgeräuschen gekoppelt wurden. Reizvolle Effekte blieben jedoch ohne dauernde Wirkung, weil die eher epische Dramaturgie kaum Fixpunkte vorsah, die ein strukturiertes Hören ermöglicht hätten. Der Raum als klangliches Gestaltungsmoment blieb bis auf einige Fern-Passagen der zu Höchstleistungen geforderten Solisten (Annette Robbert, Sopran; Kay Stiefermann, Bariton) ungenutzt – ganz zu schweigen von den Lichteffekten, die nicht nur sparsam, sondern hinter Merkels Tafelbild auch nur zu erahnen waren.

Kurioserweise schwieg sich das Programmheft zu dieser Uraufführung ebenso fast gänzlich aus wie zur deutschen Erstaufführung von Alfred Schnittkes „Gelbem Klang“ (1973/74/1983) nach Kandinskys Bühnenkomposition von 1912 – ganz abgesehen davon, dass Schnittkes Pantomime hier gestrichen wurde. Der 1998 verstorbene Schnittke hat in dem Werk für Mezzospran, Chor und Orchester in gewohnt raffinierter Weise Gefundenes zusammengetragen, Bekanntes zitiert, Altes verfügbar gemacht und in eine klare Form gebracht, deren Inhalt nicht zuletzt von der raffinierten Sprachbehandlung lebt. Die Hallenser Madrigalisten (Einstudierung Helko Siede), ein semi-professionelles Ensemble, präsentierten sich mit professionellem Chorklang.

Das unterschiedlich beleuchtete Bild Merkels vermochte man indes kaum mit dieser Komposition in Einklang zu bringen –ebenso wenig wie mit Nikolaj Rolawez’ Sinfonischer Dichtung „In den Stunden des Neumondes“.

Die Stunde der bestens disponierten Philharmonie aus Halle hätte eigentlich bei Mahlers überirdischen Rückert-Liedern schlagen müssen, allein Eberhard Kloke lotete die Feinheiten von Mahlers instrumentalem Welttheater nur selten aus und lieferte eine eher unterkühlte Lesart der Lieder.

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