Drei Wochen lang, vom 28. August bis zum 19. September, hat das Musikfest Stuttgart das weitläufige Thema „Nacht“ auf vielfältige Weise ausgeleuchtet: mit unterschiedlichen Konzertreihen, mit Uraufführungen, einem Symposium, Musikcafé-Plauderrunden, Museumsführungen, Gottesdiensten. Insgesamt 27.000 Besuchter kamen zu den über 70 Veranstaltungen, die traditionell über den ganzen Tag verteilt stattfanden – von früh morgens bis spät abends. Nicht mehr die gutbürgerliche Liederhalle war Ortszentrum des Festivals, sondern man musizierte in dreißig unterschiedlichen, über ganz Stuttgart verstreuten Spielstätten.
Neben Veranstaltungen in altbewähr-tem Format experimentierte man mit ungewöhnlichen Konzertformen und vernetzte sich mit anderen Kulturveranstaltern. Das gelungenste Ereignis war in dieser Hinsicht die „Große Stuttgarter Nachtmusik“: ein Wandelkonzert in Kooperation mit dem Württembergischen Landesmuseum, das fünfzehn verschiedene Programme zu bieten hatte, in denen regionale Künstler, Chöre und Ensembles, Profis und Laien an vier Orten rund um den Schillerplatz dem vielfältigen musikkulturellen Spektrum der Landeshauptstadt eindrücklich Gehör verschafften. Oder auch das aufwendige Open-Air-Konzert in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Süd von Musik der Jahrhunderte im Killesbergpark, in dem mehrere Stuttgarter Neue-Musik-Ensembles zusammengefunden hatten, um Karlheinz Stockhausens „Sternklang“ zur Aufführung zu bringen.
Neues zu wagen ohne das Bewährte aufzugeben, scheint der programmatische Ansatz zu sein, den Christian Lorenz – seit zwei Jahren Intendant der Bachakademie – verfolgt. Das Haus öffnet sich unter seiner Leitung neuen Publikumsschichten. Aber auch das Stammpublikum wird nicht verärgert: Der altehrwürdige künstlerische Leiter des Hauses, Helmuth Rilling, zieht sich zwar langsam aus dem Dirigier-Geschäft zurück, war aber auch in diesem Jahr für die Eröffnung und den Abschluss des Festivals zuständig.
Die musikwissenschaftliche Sparte des Hauses, die in den letzten Jahren wenig reife Früchte getragen hatte, wird zwar nicht fallengelassen, jedoch sinnvoll durch das Vermittlungsprojekt „Response“ ergänzt. Das in Sachen Kreativität und Disziplin beeindruckende Ergebnis wurde in einem Konzert präsentiert: Kinder und Jugendliche aus acht Stuttgarter Schulen konnten zeigen, was ihnen zum Thema „Nacht Liebe Leidenschaft“ kompositorisch so alles einfällt.
Die geistliche Ausrichtung des Festivals mit ihrem Zentrum Johann Sebastian Bach wurde ein wenig zurückgefahren, man öffnet sich weltlicheren Programmen. Christian Lorenz und sein Dramaturg Michael Gassmann engagierten zwar auch Stars der Szene: So konnte man das Leipziger Gewandhausorchester unter Riccardo Chailly mit einem Schumann-Programm hören, Mischa Maisky mit Bachs Cellosuiten oder die Sopranistin Annette Dasch mit ihrem aus Berlin importierten „Dasch-Salon“.
Aber das ganz Besondere dieses Sommers waren die vielen Raritäten: die „Marienvesper“ des Monteverdi-Zeitgenossen Alessandro Grandi etwa, die unter dem britischen Alte-Musik-Spezialisten Matthew Halls zur Aufführung kam. Oder Kurt Weills Frühwerk „Zaubernacht“, eine Kinderpantomime, deren Notenmaterial nach der Berliner Uraufführung 1922 verloren gegangen und erst 2005 wiederentdeckt worden war, und jetzt in Stuttgart erstmals wieder auf die Bühne gebracht wurde (siehe nmz Online). Vor allem aber auch die äußerst selten aufgeführten Werke für Chor, Solisten und Orchester von Robert Schumann: „Das Paradies und die Peri“, das Requiem, „Der Rose Pilgerfahrt“ und „Szenen aus Goethes Faust“.
Wie beim Musikfest Tradition, waren zudem Uraufführungen zu hören. Grenzgänger Gregor Hübner etwa war mit einer Komposition zum Thema „Schumanns Umnachtung“ beauftragt worden. Hübner verband darin Teile aus Schumanns später Missa sacra mit Jazz-Improvisationen, Zwischenspielen und einer eigenen Psalmvertonung „De profundis“. Eine Mixtur, die nicht überzeugte, zumal auch aus Briefen und Schumanns Endenicher Krankenakte rezitiert wurde, melodramatisch mit Jazzklängen unterlegt. Nicht nur die Lesung des Ergebnisberichtes der Sektion des Gehirns des Komponisten hinterließ gemischte Gefühle.
Überzeugender gestaltete sich da die Vertonung der biblischen Klagelieder des Jeremias, die man beim amerikanischen Komponisten Uri Caine in Auftrag gegeben hatte. Caine hat mit seinen „Lamentations“ für drei Solosängerinnen, Gambenquartett, Klavier und Bassklarinette Weltmusik im besten Sinne geschaffen. Er integrierte in den Zyklus aus 22 Nummern verschiedene Sprachen und Musikstile. Es klagen drei Frauen ganz unterschiedlicher musikalischer Provenienz: in freitonalen Melismen, in rau-tremolierenden Flamenco-Formen und in dunklen, hoffnungsfrohen Gospeltönen, auf Hebräisch, Spanisch und Englisch. Keine Frage: Caine verwandelte Jeremias nächtliche Klagen in weltliche, überzeitliche Trauergesänge der Menschheit. Für das diesjährige Musikfest sicherlich einer der größten Erfolge.
Das nächste Musikfest der Bachakademie steht unter dem Motto „Wasser“ und findet vom 27. August bis 18. September 2011 statt.