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Foto: © Serhiy Horobets
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„Nationaloper“ im Karpatenschloss: Dmytri Bortnianskys „Alcide“ beim 2. LvivMozArt Festival

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Zwei Festivals, die fast gleichzeitig ihre zweite Folge erleben, wetteifern im west-ukrainischen Lviv (ehemals Lemberg) um die Gunst der Hörer und die besten Aufführungsorte. Im Spiegelsaal des Opernhauses, im Potocki-Palast und in der Philharmonie konzertieren das Matthias Kendlinger Musik Festival (10. bis 14. Juli) mit den ukrainischen Musikern der K&K Philharmoniker und das Festival LvivMozArt (13. bis 22. Juli) unter der künstlerischen Leitung von Oksana Lyniv. LvivMozArt erobert mit älteren und neuen Werken um Mozarts Sohn Franz Xaver, der von 1808 bis 1838 das Lemberger Musikleben als Pädagoge, Komponist und Interpret zur Blüte brachte, neue Spielstätten wie im letzten Jahr die alte Siemens-Fabrikhalle und jetzt das Tramdepot.

So stellen sich mitteleuropäische Fans Graf Draculas Familiensitz vor: Das im 15. Jahrhundert erbaute Schloss Svirzh liegt etwa 55 Kilometer westlich von Lviv in malerischer Hügellage über zwei kleinen Seen. Eine Holzbrücke führt über den schmalen Graben zum Torbogen. Seit Jahren steht Schloss Svirzh leer. Pittoreske Vergangenheit pur! An einem erst sonnigen und dann verregneten Sommerabend wie zur Premiere von „Alcide“ sinken die Temperaturen schnell auf 14 Grad. Man hört weder ferne Käuzchen noch das Schlagen von Fledermausflügeln. Dafür zirpen zu Bortnianskys Klängen kräftige Zikaden in die kühle Nachtluft. Die Gäste folgen dem Dresscode „Cocktail“ und schreiten auf einem orangenen Teppich, der auch die Spielfläche umrundet, in den Hof. Mit einem riesigen Aufwand wurden dort für vier Vorstellungen und die Schlussproben Spielfläche, Zuschauertribüne, Catering und Logistik realisiert. Das macht noch größeren Eindruck, weil Schloss Svirzh kein Museum und keine Gastronomie beherbergt und fast alle Räume leer stehen.

Die Lviver Stadtregierung will wie Vasyl Vovkun, Intendant der Oper Lviv, mehr Neues und Neuartiges im vor allem aus konventionellen Formaten und traditionellen Inszenierungen bestehenden „klassischen“ Kulturangeboten. Deshalb erhalten junge Versuche wie das Festival LvivMozArt der Ukrainerin Oksanna Lyniv, derzeit Chefdirigentin des Grazer Philharmonischen Orchesters, und das Festival ausschließlich mit eigenen Kompositionen des Österreichers Matthias Georg Kendlinger, Leiter der K&K Philharmoniker, umfangreiche Unterstützung. Der Werbeaufwand ist beeindruckend wie die Sponsoren-Pakete. Beide Festivals erweiterten im Vergleich zum letzten Jahr die Zahl ihrer Veranstaltungen beträchtlich.

Die intensive Aufmerksamkeit der je etwa 250 Zuschauer, die fast alle in Shuttlebussen aus Lviv zu den ausverkauften Vorstellungen von „Alcide“ zum Schloss Svirzh kommen, gilt nicht nur der Oper, sondern auch dem reflektierenden Umgang mit der eigenen nationalen Identität. Dmitri Bortniansky (1751-1825) ist der wichtige Mittler zwischen dem 18. Jahrhundert und der frühen russischen nationalromantischen Oper, vor allem aber, wie die Musikjournalistin Lyubov Morozova in ihrer Einführung akzentuiert, zu einer spezifisch ukrainischen Musik. Sein „Alcide“, (Venedig 1778) hat mit einer vor etwa zwanzig Jahren entstandenen Einspielung und zum Beispiel einer Produktion in Odessa wachsende Bedeutung, weil die ukrainische Kunstmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für die Gegenwart auch 27 Jahre nach der Staatsgründung selbst in ihrem Herkunftsland noch weitgehend unerschlossen ist.

Es geht aber genauso um die Achse zwischen dem Mozart-Sohn Franz Xaver, einem Repräsentanten europäischer Musik, zur ukrainischen Kultur. Dafür ist Bortnianskys Vertonung des italienischen Librettos von Pietro Metastasio über Herakles-Alcide, der sich am Scheideweg schließlich doch gegen die Lockungen der Sinnlichkeit für die Tugend und ein sinnvolles Leben entscheidet, gut geeignet: Ein Musiktheater zwischen Kantate, Oper und Oratorium wie Wolfgang Amadeus Mozarts „Il sogno di Scipione“ oder „La Betulia liberata“.

Bortnianskys „Alcide“ klingt stellenweise sogar wie Mozart. Für das Spiel findet Regisseur Andreas Weirich, den Oksana Lyniv von der Bayerischen Staatsoper München holte, mit dem aktionsfreudigen Chor der Nationalen Musikakademie Mykola Lysenko Lviv, der Choreografin Maria Bakaly und dem „Neuen Tanzraum Lviv“ einfache und gerade deshalb wirkungsvolle Bilder. Chorsänger und Tänzer agieren improvisierend und spiegeln nur allzu menschliche Lüsternheit, Überdruss, Trägheit, Tatendrang und Sinnsuche. Das Publikum bleibt zwei pausenlose Stunden aufmerksam, spendet den Sängern und dem Baroque Chapel Orchestra immer wieder heftigen, am Ende zu lauten Ovationen anschwellenden Beifall.

Straff, an manchen Stellen mit einer die Dramatik der Musik akzentuierenden Härte, untermauert Oksana Lyniv den ganzen Abend mit einem farbenreichen Gestus. Geringfügigen Druck erhält diese sich von zu kantabler Unverbindlichkeit distanzierende und dadurch sehr einprägsame Deutung, als gegen Ende die Regentropfen immer lauter auf die Bedachung prasseln. Oksana Lyniv verdichtet alle Vorzüge der wirkungsvoll instrumentierten Partitur und macht das Orchester zum gleichberechtigten Partner der Solisten mit ihren umfangreich verzierten Partien. Sie wahrt stilbewusst den allegorischen Stil und hebt dabei doch mit Nachdruck die Spannungsbalance der Fülle musikalischer Einfälle. Am Schluss überspringt Ercole-Alcide den orangenen Bannkreis und ergreift die Flucht vor dem Druck der Optimierungsstrategien seines Erziehers, der gefährlichen Lustspenderin Edonide und der herben Tugendhüterin Aretea.

Die beiden Damen des jungen Ensembles schlagen sich souverän und noch glücklicher als die Herren: Yuliia Zasimova verströmt stimmliche Beseelung, die man an der hier recht verhärmt-säuerlichen Amazonin Aretea nicht vermutet hätte. Zur echten Gefahr wird die schöne Edonide für Alcide auch, weil Tetiana Chaika keinerlei Verderbtheit ausstellt, sondern nur nach den liebenswerten Waffen Grazie und Anmut greift. Der Altus Viktor Andrichenki, von Typ eher ein Wilhelm Meister in den Lehrjahren oder Junggelehrter als heroisches Krafpaket, durchmisst den Kastratenpart des Alcide mit kräftigem, zunehmend imponierendem Können und sogar Nazar Tatsyshyn reißt den von Bortniansky etwas blässlich gehaltenen Erzieher Fromino auf die tenorale Virtuosen-Seite.

Das Festival LvivMozArt hat zahlreiche Anhänger, die lautstark den Ausbau der 720.000 Einwohner-Stadt zum international konkurrenzfähigen Festival-Zentrum fordern. Jetzt geht es daran, die Breitenwirkung auszubauen. Künstlerische Voraussetzungen, Ressourcen und Ideen dafür sind in reichem Maße vorhanden.


Der Aufenthalt wurde ermöglicht durch die Stadt Lviv.

 

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