Die im Rahmen von Spezialfestivals für neue, neueste, aktuelle und zeitgenössische Musik uraufgeführten Stücke stehen zumeist nicht in bestimmten Gattungstraditionen. Als Solitäre verorten sie sich allenfalls in der Nachfolge der von herkömmlichen Besetzungen, Formen und Ausdrucksidealen sich nominalistisch lösenden Moderne und Avantgarde. Jenseits dieser Inner Circle der neuen Musik pflegen andere Auftraggeber, Veranstalter und Interpreten jedoch sehr wohl alte Gattungen: Oper, Oratorium, Kantate, Lied, Tondichtung, Weltanschauungs-Sinfonik, in klanglich mehr oder minder neuem Gewand.
Der äußerlichen Nähe zu Formen des 18. und 19. Jahrhunderts korrespondiert eine funktionale. Denn statt als Medium kritischer Materialreflexion und Selbsterfahrung erscheint Musik eher als Mittel zum Zweck der Vermittlung von Botschaften, der Repräsentation und Feier spezieller Anlässe. Das romantische Ideal der Kunstautonomie unterwandern klerikale, bourgeoise und neofeudale Gebrauchsfunktionen.
In der Wiener Kirche St. Ursula erklingt am 1. Juni erstmalig Thomas Daniel Schlees „Psalm 128“ für Sopran und Orgel, eine Segnung von Gottesfurcht, Arbeit, Haus, Frau, Kinder, gedecktem Tisch und langem Leben. Stefan Heucke komponierte „Der Menschheit Würde“ nach Worten von Friedrich Schiller. Uraufgeführt werden seine Variationen für Sopran, Kinderchor, Chor und Orchester am 5. Juni im Konzertsaal des Kulturpalasts Dresden. Am 10. Juni hat dann Heuckes „Deutsche Messe“ Premiere in der Mainzer Kirche St. Stephan. Die sinfonisch dimensionierte Komposition für vier Soli, gemischten Chor und Orchester stellt sich bewusst in die Tradition der Messen von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und Bruckner. Das anlässlich des Luther-Jahres in Auftrag gegebene gut eineinhalbstündige Werk verbindet als Zeichen der Ökumene gregorianische Hymnen mit Luther-Chorälen. Textlich folgt es dem Ordinarium in einer Neuübersetzung von Norbert Lammert, dem seit 2005 amtierenden Präsidenten des Deutschen Bundestages.
Episch-dramatischen Traditionen folgen neue Musiktheaterwerke. Andrew Normans am 17. Juni in Berlin konzertant uraufgeführter „A Trip to the Moon“ wurde von Georges Mélièses gleichnamigem Stummfilm von 1902 inspiriert und möchte eine „Opera for people of all ages“ sein. Über die Hinterbühne des Mainfranken Theaters Würzburg geht am 24. Juni erstmalig Alois Bröders Oper „Unverhofftes Wiedersehen“ nach der gleichnamigen Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel.
Die Kölner Vokalsolisten präsentieren am 26. Juni in der Kölner Kirche St. Andreas anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens zwei lokalspezifische Novitäten: Kent Gablers „Bei Hennef“ und Martin Wistinghausens „Köln“. Ortsbezogen ist auch Christian Josts 70-minütige „Shanghai Odyssey“, ein musikalisches Porträt der chinesischen Mega-City, das am 28. Juni vom Shanghai Chinese Orchestra in der Symphony Hall Shanghai unter Leitung des Komponisten uraufgeführt wird. Wilfried Hillers „Schöpfung“ ist ein „klingendes Mosaik“ für Vokalquintett und vier Instrumente unter Verwendung von Martin Bubers Übersetzung der alttestamentarischen „Genesis“. Die Uraufführung findet am 27. Juni in der Katholischen Akademie Bayern in München statt, und zwar in Zusammenspiel mit einem Mosaik und Skulpturen von Antje Tesche-Mentzen.
Weitere Uraufführungen:
1.6.: Charlotte Seither, Wenige Silben vom Glück für Stimme solo, Jubiläumskonzert 10 Jahre Ensemble Auditivvokal, Deutsches Hygiene-Museum Dresden
2.6.: Dorothee Schabert, Klaus Ospald, Sidney Corbet, Gerald Eckert, neue Werke für Ensemble Aventure, Elisabeth Schneider Stiftung Freiburg; Oscar Bianchi, Hans Thomalla, neue Werke für Orchester, musica viva Herkulessaal München
5.6.: Harrison Birtwistle, Deep Time für Staatskapelle Berlin
8.6: Camille van Lunen, „Ein Geschenk für die Fee“ (2016-2017) für zwei Sänger, Kinderchor und Orchester
17.6.: Johannes Boris Borowski, Streichquartett Nr. 2, Minguet Quartett, Stuttgart; und Helmut Lachenmann, Marche fatale, Tokyo
18.6.: Marko Nikodijevic, Streichquartett für Armida Quartett, Kölner Philharmonie
22.6.: Christian Mason, Aimless Wonder für Kammerorchester München, Prinzregententheater
24.6.: Jean Barraqué, Melos für Orchester, Johannes Schöllhorn, „este que ves en sombra“ für Kammerorchester, WDR Funkhaus Köln