Einer der Lieblingsfetische der Wirtschaftseliten heißt Personaleinsparung. Mauricio Kagels „Zwei-Mann-Orchester für zwei Ein-Mann-Orchester“ liefert hier gute Ideen für den Musikbetrieb. Warum über 100 MusikerInnen in einem Sinfonieorchester beschäftigen, wenn doch stattdessen gerade mal zwei Spieler reichen, um diese mit der Tonerzeugung auf jeweils mehr als 100 Instrumenten (pro Spieler wohlgemerkt!) zu betrauen?
Die Performer Wilhelm Bruck und Matthias Würsch fügten sich beim Essener NOW-Festival denkbar unerschrocken in ihr Los. Eingebunden in ein kompliziertes Geflecht aus Seilen, Mechaniken, Apparaturen, Violinen, Gitarren, Klavieren, Trommeln, Tröten, Wasserbecken, Werkzeugen und allerlei mehr wirkten sie wie direkt aus einer Jules-Verne-Zukunftsvision erstanden. Die klingenden „Erzeugnisse“ aus diesem Kosmos wirkten faszinierend vielfältig, geradezu poetisch – so will es Mauricio Kagels Partitur, die hier kein Detail dem Zufall überlässt...
So geht Performance, die sich bei allem Humor auch der künstlerischen Konsequenz verschreibt, die bereichert und unterhält. So geschehen auf der aktuellen Ausgabe des Essener NOW-Festivals, die sich dem Oberthema Performance gewidmet hatte.
Blaubart und Erwartung
Doch zunächst demonstrierte ein überwältigender Eröffnungsabend mit Béla Bartòks „Herzog Blaubarts Burg“ gepaart mit Arnold Schönbergs Monodram „Erwartung“, dass für die Abbildung elementarer psychischer Zustände die größtmöglichen musikalischen Darstellungsmittel der frühen Moderne im 20. Jahrhundert gerade gut genug sind. Deirdre Angenent als Judith und Andrew Schroeder alias Herzog Blaubart inszenierten den unheimlichen Seelentrip, für den die Erkundung der rätselhaften Burg des Herzog-Blaubarts steht. Eine wahrhaft elektrisierende Angela Denoke irrte danach in Schönbergs expressionistisch-atonalem Bühnenwerk als Alleingelassene, als vor verlangender Sehnsucht bebende Frau durch den dunklen Wald. Noch dichter dran an diesem imaginären „Film Noire“ konnte man durch die aufgebotenen musikalischen Mittel (durchgehend überragend hier die Essener Philharmoniker) nicht sein.
Mit jungen querdenkerischen Ansätzen von sich reden macht seit der vorletzten Festivalausgabe der tschechische Komponist Andrei Adamek. Sein aktueller Beitrag überraschte gleich in mehrerer Hinsicht: Hatte Adamek vor zwei Jahren mit der ironischen Einbeziehung allerhand mechanischer Apparate Kagels Spiel mit ironischen Brechungen ganz neu, anders und erfrischend poetisch weitergedacht, so versetzte jetzt im Alfried-Krupp-Saal das feinfühlig und darstellerisch mutige Chorwerk Ruhr sein Publikum mit einem tief berührenden, sprach-poetischen Vokalwerk ins Staunen. „Schreibt bald“ heißt sein neues Konzert/Performance-Stück für 21 Stimmen, für verstärkte Objekte und Echtzeit-Videoprojektion. Wie sehr kann das Schreiben weniger Worte zur verbindenden Lifeline zwischen Menschen werden! Hier geht es um karge, verzweifelte, hoffnungsvolle, liebende, eben verbindende Worte, welche Gefangene in Konzentrationslagern auf Postkarten an ihre geliebten Mitmenschen schreiben. Adamek hat für ein solches Thema eine vokale und darstellerische Diktion gefunden, welche trotz aller verspielten kreativen Frische diesem ernsten Sujet einen großen Respekt zollt.
Was Performance mit spiritueller Dimension zu tun hat, demonstrierte das NOW Festival auf ganz aktuelle, dem regionalen Aspekt leidenschaftlich verbundene Weise. In der Essener Kokerei Zollverein führte ein tibetanischer Meister eine Art Heilungsritual durch. Um damit jener „Verwundung der Erde“ zu begegnen, welche durch das systematische Aushöhlen und Durchlöchern des Bodens für die Energiegewinnung zustande gekommen war – ein symbolträchtiger Akt war dies allemal.
„Stimmung“
Dass das NOW-Festival durch ideenreiche Dramaturgien und Aufbietung hochmotivierter Weltklasse-Interpreten und -Ensembles zuhauf neue Erfahrungen mit Musik ermöglicht, wurde auch durch die aktuelle Festivalausgabe bekräftigt. Klar wird dabei auch: Um sich musikalisch auf der Höhe der Zeit zu artikulieren, braucht es nicht immer nur den inflationären Reigen ständiger kurzlebiger Uraufführungen. Denn das 20. Jahrhundert mit seinen vielen Phasen von Aufbruch und Erneuerung stellt doch einen unerschöpflichen Schatz in Sachen musikalischer Erneuerung dar, der es leider im risikoscheuen konventionellen Konzertbetrieb schwer hat.
Karlheinz Stockhausens Vokalwerk „Stimmung“ taugt daher auch heute noch dazu, das Konzerterlebnis an sich neu zu definieren. Zugleich wird deutlich, wie sehr dieser Komponist ein spirituell Suchender war. Die sechs VokalistInnen aus dem Chorwerk Ruhr im Alfried-Krupp-Saal bilden einen rituellen Kreis, intonieren dann in repetitiver Struktur und subtiler Obertonschichtung ein um sich selbst zentriertes Kontinuum, das durchaus Parallelen zu mongolischen oder tibetanischen religiösen Gesängen aufbietet – aber regelmäßig humorvolle, manchmal an absurdes Theater erinnernde Brechungen erfährt. Was – im Alfried-Krupp-Saal frappierend raumklangtechnisch umgesetzt – die Zuhörer in einen meditativen Zustand hineinzog, der zur neuen Erfahrung wurde.
„Einstein on the Beach“
Ähnlich, aber doch wieder ganz anders, manipulierte eine Neu-Inszenierung der Philip Glass-Oper „Einstein on the Beach“ das Zeiterleben, bzw. setzte dieses völlig außer Kraft – was im hektischen Alltag fast einer therapeutischen Erfahrung gleichkommen kann. In einer konzertanten Aufführung hatte sich das hochmotivierte Collegium Vocale Gent dieser Pioniertat der Minimal Music angenommen. Entkleidet weitgehend von szenischen Elementen, die ohnehin oft darin überfordern, diesem verqueren Werk eine Art Botschaft abzuringen, konnte man sich durch die Reduktion aufs Musikalische umso mehr dem endlosen in Trance versetzenden Fluss aus repetitiven syllabischen und rhythmischen Elementen hingeben. Wenn auch nur in einer etwas mehr als dreieinhalb Stunden dauernden „Kurzfassung“...