Das „Festival für neue Musik“ von DeutschlandRadio Berlin ist gerade verklungen („Vorstoß ins Unerhörte – Das Berliner Festival Ultra-Schall“, nmz 2/04), da zieht das Schwesterprogramm des Senders, Deutschlandfunk in Köln mit dem „Forum neuer Musik“ nach: Kleiner, ohne schicke Installationen und Klangkunstbilder, keine Angebote zum Abhängen in der Late Lounge, keine Debatten über „Vernetzung“ und „Vermittlung“, vor allem aber ohne die großen Namen der Szene, die so gern herumgereicht werden. Vier Konzerte mit lauter „Unbekannten“. – Initiiert vom ehemaligen Neue Musik-Redakteur Reinhard Oehlschlägel präsentierte sich das „Forum neuer Musik“ im Deutschlandfunk jetzt zum dritten Mal in der Verantwortung seines Nachfolgers Frank Kämpfer.
Zwar käme jeder Bilanzversuch mit Sicherheit zu früh, doch die Konturen eines anderen Verständnisses dessen, was neue Musik ist, sein oder werden kann, werden sichtbar. Kämpfer selbst spricht von einem „beabsichtigten Grenzgang zwischen Avantgarde-Standard und Eigenprofil“, um seinen ästhetisch-kategorischen Imperativ auf die Formel zu bringen: „Sich öffnen, weg von falscher Stringenz, herunter vom Sockel, auf Leute zugehen“ (Interview zur Forum-Ausgabe 2003, nmz 6/03). Was darunter zu verstehen ist und inwiefern dem apostrophierten „Weg von“ bereits ein „Hin zu“ korrespondiert, führt auf die Frage nach der künstlerischen Bilanz der musikalischen März-Ereignisse im Sendesaal des Kölner Deutschlandfunks, denn auch ein kleines Forum ist ein Ort der Wahrheit.
Auf den ersten Blick gab sich das Forum neuer Musik in der Ausgabe 2004 als Bekenntnis zur Sprachenvielfalt. Ein markantes Wortcluster zierte Festival-Plakat und Programmheft: Voor percussie – Baltijos projektas – Blues, deconstructed – Dvorákuv problém. Vier Konzertereignisse viersprachig angekündigt mit großen Lettern vor dem Hintergrund einer Europakarte. Doch schnell wurde klar: Das Cluster ist mitnichten ein Cluster, vielmehr eine Akkordschichtung mit Tendenz zur Auflösung ins Thema EU- Osterweiterung. Deren künstlerische Reflexe wollte DLF-Neue Musik-Redakteur Frank Kämpfer in seinem dritten Forum-Spielplan zu Gehör bringen. Programmiert waren zwei Kammermusikprojekte zur jungen Komponisten- und Komponistinnenszene des Baltikums und Tschechiens, dazu zwei niederländische Interpreten beziehungsweise Interpretenformationen – Pianist Marcel Worms (Blues, deconstructed) aus Amsterdam und die Slagwerkgroep Den Haag (Voor percussie) – mit schwerpunktbildenden Innenansichten aus den staatlichen Zerfallsprodukten der ehemaligen Jugoslawischen Föderation.
Der zweite Blick verriet freilich auch, dass das im Forum-Programm 2004 gebotene Material übers Osteuropa-Thema doch mit großer Selbstverständlichkeit hinaustendiert. Im Fortgang wurde offenkundig, dass sich das junge „osteuropäische“ Komponieren entlang einer virtuellen Linie Baltikum-Tschechien-Ex-Jugoslawien ebensogut aufs Herkommen bezieht, wie es diesem zu entkommen versucht. Am deutlichsten zeigte sich dies im pianistisch virtuosen Blues-Abend des Amsterdamer Marcel Worms, der sich seit Jahr und Tag immer wieder neue-alte Blueskompositionen schreiben lässt.
Solcherart Aufnehmen von geborgtem Material kehrte auch wieder in dem vom Gitarristen Reinbert Evers geleiteten und mitverantworteten Kammermusikprogramm Baltijos projektas mit dem kanadischen Accordes String Quartet. Unüberhörbar spielten Minimal, Jazz sowie Folklore- und Popidiome in die Arbeiten der jungen lettischen Komponistin Ruta Paidere (geb. 1977) wie in die ihrer litauischen Kollegin Raminta Serksnyte (geb. 1975) hinein, beide in Köln mit uraufzuführenden Auftragswerken des Deutschlandfunks vertreten. Letztere präsentierte ein jazzinspiriertes Trugbild („Mirage“) für Gitarre solo, dessen vorgeblich fremdartige, unreale Klänge – Tonverbiegungen, Vibrato, Glissandi, Klopfen – sich indes als doch ziemlich bekannt und real erwiesen.
„Lichterspiel“ und „Lichtreflexionen“ hatten es der in Hamburg lebenden, aus Riga stammenden Ruta Paidere angetan. Bis in den Titel ihrer jüngsten Arbeit verbeugte sie sich vor dem Minimal-Denkmal Steve Reich, dessen „Different Trains“ sie mit Hilfe von Gitarre, Vibraphon und Schlagzeug in atmosphärische „Different lights“ modulierte.
Das dritte Auftragswerk war der in Paris lebenden, aus Tallin stammenden Helena Tulve (geb. 1972) anvertraut. Diese beschwor in ihren „éffleurements, éclatements“ für Gitarre und Percussion unter Bezug auf französische Spektralmusik naturräumliche Erfahrungen ihrer Heimat. „Ich bin ein nordisches Wesen“ ließ sie sich im Programmheft zitieren. Dass dies mitnichten ein Ausrutscher war, bewies der von Lutz Lesle verantwortete, musikwissenschaftliche Beitrag zur baltischen Komponistenszene: „Die Ruhe der Wälder, der Spiegel der Seen und die Weite des Meeres sind für sie unverzichtbare Quellen der Inspiration.“ Der Norden – man registrierte es mit Überraschung – ist anders.
Wenn gute Geschichten dadurch bestimmt sind, dass sie ihr Geheimnis nicht vor dem Ende preisgeben, so enthüllte freilich auch erst der Schluss des Forums neuer Musik 2004 im Deutschlandfunk, auf welche Frage die vorangegangenen Programmteile geantwortet, respektive versucht hatten, zu antworten. Erst das tschechische Ensemble MoEns stellte die dazugehörige Frage konkret: Dvorákuv problém! Was ist Dvoráks Problem?
Eigentlich eine bekannte Fragestellung: „Wie muss“ – so paraphrasierte Kämpfer in einer seiner konzerteröffnenden Kurzmoderation das Problem des tschechischen Komponisten – „zeitgenössische Musik beschaffen sein, um den Weg zu den Hörern zu finden und zugleich innovativ zu bleiben?“
Dvoráks Problem erwies sich somit alles andere als ein historisch-museales, vielmehr als Problem all derjenigen, die heute mit dem Komponieren, Interpretieren und Programmieren Neuer Musik befasst sind: Erfolg beim Publikum nicht auf Kosten von Qualität und Qualität, nicht unter Preisgabe des Publikums – eine Quadratur des Kreises?
Nicht für das Ensemble MoEns aus Prag, das 1995 als Abspaltung aus Agon – seinerseits eine Frucht der samtenen Revolution von 1989 – hervorgegangen ist. Im Unterschied zu Agon, das sich als dezidierte Avantgarde-Formation begriff, bekannte und bekennt sich MoEns zu einer neuen stilistischen Breite.
Mit den vom Deutschlandfunk beim Ensemble-Komponisten und Pianisten Hanus Barton sowie bei Miroslav Pudlák, dem komponierenden Dirigenten und früheren Agon-Mitbegründer in Auftrag gegebenen Arbeiten – weitere Beispiele für die von Kämpfer engagiert vertretene „mäzenatische Verpflichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ – kam das Forum neuer Musik nach schweifenden Exkursionen in die nordische Landschaft und in den Blues in der Gegenwart an.
Die Antwort(en), die MoEns einem ebenso zahlreich erschienenen wie aufmerksam lauschenden Publikum auf Dvoráks Problem servierte, genügten zunächst dem Anspruch, Kunst möge in der Lage sein, die Gegenwart auszudrücken, die Zeit in musikalische Gedanken zu fassen, auch wenn diese nicht mehr die Zeit von diesem oder jenem ist, sondern – was vom Ensemble MoEns deutlich gespürt wird – die Gleichzeitigkeit von Vielem und vor allem Ungleichzeitigem.
Das mit hoher Intensität aufspielende Prager Ensemble in der Besetzung Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Cello, Klavier und Synthesizer präsentierte mit Bartons Oaza/Oase und Pudláks Aria zu keinem Zeitpunkt ausrechenbare Arbeiten. Barton und Pudlák wie ihre tschechischen Komponistenkollegen Peter Graham, Marko Ivanovic und Michael Nejtek beeindruckten mit ihren Mischungen aus repetitiven Mustern, tonalen Zentren, statischen Klangflächen, Melodieformeln, rhythmischen Breaks, Pausen, Erinnerungen an die Avantgarde und vielem mehr. Alles in allem ein realistischer Ausdruck für die Erfahrung einer Realität, in der es – EU-Osterweiterung hin oder her – keinen „Osten“ und keinen „Westen“ mehr gibt. In der Kunst – soviel zumindest konnte das Kölner Forum neuer Musik vermitteln – ist es schon ein Diwan geworden.