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Festivalchef Matthias Kaul und das Ensemble L’ART POUR L’ART mit „Parlando, die Talkbox, ein Sprechwerkzeug“. Foto: Regine Heiland
Festivalchef Matthias Kaul und das Ensemble L’ART POUR L’ART mit „Parlando, die Talkbox, ein Sprechwerkzeug“. Foto: Regine Heiland
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Neue Musik beim Wort genommen

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Zum zehnten Musik 21 Festival in Hannover
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Das Festival „Um’s Wort“ vom 17. bis 20. August in Hannover war eines der Überraschungen und Entdeckungen. Veranstaltet hatte es Musik 21 Niedersachsen, das 2006 gegründete und voriges Jahr in seiner Leitung personell neu besetzte „Netzwerk neue Musik Niedersachsen“. Zur Neubesetzung gehörte mit dem Percussionisten und Komponisten Matthias Kaul ein Kurator, der den verdienstvollen künstlerischen Leiter der vergangenen Jahre, Stephan Meier, ablöste.

Auch das niedersächsische Festival für neue Musik ist eine Art Leistungsschau der hier ansässigen Ensembles, Musiker und Komponisten.  Doch aufgrund  der Themenumsetzung durch einen per se experimentell denkenden und musikalisch handelnden Musiker wie Kaul war das Lokale über sich selbst hinaus gewachsen. Dafür sorgte nicht nur der Schwerpunkt nordische Länder und die dementsprechend eingeladenen Gäste. Das Thema selbst hatte dazu angeregt, sich auf völlig unbegangenes Terrain zu wagen. Das Experiment als Veranstaltungspraxis lebt!

Für die Programmgestaltung wurden unterschiedlichste Ausgangspunkte entscheidend: das Gewirr fremder Alltagssprachen und experimentelle Poesie (vertreten durch Yoko Tawada, Mara Genschel und Inga Christensen), die Idee der Abwesenheit und die der Körperlosigkeit von Sprache bis hin zum Phänomen von Klangsprache als Signal. Musik 21 hatte an neunzehn unterschiedlichste Komponistinnen und Komponisten Auftragswerke  für Fanfaren zwischen zehn Sekunden und zwei Minuten Dauer vergeben, die zu allen nur möglichen und unmöglichen Zeiten die Konzerte begleiteten, störten und kommentierten. (Ihre Besprechung wäre einen eigenen Aufsatz wert.)

Als Herzstück des Festivals erwies sich (für mich) „Listen Voices!“ im großen Saal des Kulturzentrums Pavillon Hannover, eine Sprechmusik mit völlig ungewissem Ausgang nach einer Idee von Matthias Kaul. Urheber waren sechzig „Ausführende“ und eine vierköpfige Elektronikcrew um Jo­achim Heintz vom Institut für Neue Musik der HMTM Hannover. An fünfzehn Tischen im Zentrum des unbestuhlten Saals speisten sechzig in Hannover lebende Menschen aus dreißig Ländern und unterhielten sich angeregt: Dreißig Sprachen standen im Raum und repräsentierten die Sprachvielfalt der in der niedersächsischen Landeshauptstadt lebenden Bevölkerung. Was für ein vielfarbiges Tableau friedlichen Beisammenseins von Menschen unterschiedlichster Hautfarbe und Kulturen! Auf jedem Tisch befand sich ein Mikrofon, genutzt wurde außerdem ein mobiles Richtmikrofon. Im Zwischenraum zweier Lautsprecherkreise an den Wänden und um die Tischgruppe, in dem das Publikum flanierte, ereignete sich über eine Dauer von vierzig Minuten eine klanglich-soziale Erfahrungssituation aus Sehen, Lauschen und Nachsinnen. Ihr künstlerisches Potenzial als musikalisch gestalteter Multisprachenraum offenbarte sie allerdings erst bei der Wiederholung am Sonntag – auch Echtzeitkompositionen brauchen anscheinend Proben.

Zwischen Eröffnungskonzert mit dem norwegischen Ensemble Asamisimasa und dem Abschlusskonzert mit dem Ensemble Megaphon aus Hannover (die ich beide leider nicht hören konnte) öffnete das Festival ein Panorama an Möglichkeiten, Sprache in Musik und Musik in Sprache zu verwandeln. Für das lauschende Ohr unakzeptabel, weil öde und langweilig, war darin lediglich der Silbenautomat von Pit Noak, eine Sprichwörter-Installation im Treppenhaus des Künstlerhauses Hannover. Äußerst vergnügliche Wiederbegegnungen und Entdeckungen brachte dagegen der Rückblick in die musikalische Moderne mit Musikern der Staatsoper Hannover im Magazin 4 im Keller der Staatsoper. Kurt Schwitters unverwüstliche Ursonate (4. Satz), in einer rasanten Interpretation durch den Chefdramaturgen Klaus Angermann, erinnerte an die überbordende Kunstfantasie der Dadaisten. Luciano Berios Thema „[Ommagio a Joyce]“ und Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ (beides vom Band) vergegenwärtigten die verblüffende Kreativität in den Anfängen elektronischer Musik. Und einfach großartig waren die drei Schlagzeuger Sebastian Hahn, Philipp Kohnke und Arno Schlank mit Vinko Globokars „Toucher“ (1973) und „Corporel“ (1984), John Cages „Forever and Sunsmell“ (1942) und Casey Cangelosis „Plato’s Cave“ (2011), letzteres als absolut synchrones Duo in den repetitiv-rasanten Abläufen. Nur Mendelssohn-Bartholdys Lieder ohne Worte passten klanglich so gar nicht in dieses Konzert.

Zu den Höhepunkten dieses anregenden Festivals gehörte auch Steve Reichs Streichquartett mit Tonbandzuspiel „Different Trains“ von 1988 mit dem Nomos Quartett. Bei dem Talkbox-Konzert des Ensembles L’ART POUR L’ART fesselte vor allem Matthias Kauls „Sunfish“ von 2016, ein feingliedriges Gespinst aus von Mund und Hand erzeugten Klängen für Sopranstimme und Percussion mit der ausgezeichneten Ulrike Bartusch, die durch ihre leise stimmliche Präsenz bezauberte. Und die Idee der körperlosen Sprache hatte schließlich eine Komposition nach Hannover gebracht, deren bitterskurriler schwarzer Humor zu später Stunde am Samstag Abend endlich einmal auch die Lachmuskeln reizte. Trond Reinholdtsens Bettperformance „4 Deutsche Lieder“ von 1988 für Schauspieler im Schlafanzug mit Nachtmütze (umwerfend Torsten Schütte), Live-Kamera und großen Bildschirm am Fußende sowie Tonband (mit der Stimme des Komponisten und Klassikparaphrasen) treibt die Persiflage des deutsch-intellektuellen Kleingeistes in einer Weise auf die Spitze, dass die Wahrhaftigkeit selbst wieder zur Persiflage wird. Nicht doppelte Verneinung, sondern doppelte Entlarvung.

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