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Neue Töne zu Neujahr

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Uraufführungen in der Hamburger Musikhalle
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Zu ihren individuellen Horizonten blickten der Engländer Marc-Anthony Turnage, der Amerikaner Christopher Rouse, der in New York lebende Chinese Bright Sheng sowie die Deutschen Aribert Reimann, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm und Peter Ruzicka. Alle komponierten keine gefälligen Grußadressen ans neue Jahr, auch keine verbindlichen Petitessen, die ein „normales“ Publikum notfalls noch goutiert hätte. Zu vernehmen waren vielmehr sieben ausgewachsene, schwierige Werke – Spieldauer zwischen 14 und 25 Minuten. Mit Pausen währte das Konzert von neunzehn Uhr bis eine halbe Stunde nach Mitternacht: eine bewundernswerte Konzentrationsleistung der Musiker. Verwunderung erregte dagegen das Hamburger Publikum: Es hatte nicht nur die Vorverkaufskassen gestürmt – das Konzert war absolut ausverkauft –, sondern harrte auch die fünfeinhalb Stunden mit bemerkenswerter Konzentration und Neugier aus.

Darf man es als hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft unserer Musik nehmen – das Neujahrskonzert des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks am 2. Januar 2000 in der Hamburger Musikhalle? Christoph Eschenbach, der neue Chefdirigent des Orchesters, überließ Walzer, Galopp und Polka einschließlich Beethovens „Neunter“ der Konkurrenz und verpflichtete seine Musiker auf den Blick nach vorn: Sieben Uraufführungen bestellte er bei sieben Komponisten aus drei Welten, da aber jeder Komponist eine eigene Welt darstellt, mit eigenem Horizont, erhielt das monströse Musikunternehmen den Titel „Sieben Horizonte“. Zu ihren individuellen Horizonten blickten der Engländer Marc-Anthony Turnage, der Amerikaner Christopher Rouse, der in New York lebende Chinese Bright Sheng sowie die Deutschen Aribert Reimann, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm und Peter Ruzicka. Alle komponierten keine gefälligen Grußadressen ans neue Jahr, auch keine verbindlichen Petitessen, die ein „normales“ Publikum notfalls noch goutiert hätte. Zu vernehmen waren vielmehr sieben ausgewachsene, schwierige Werke – Spieldauer zwischen 14 und 25 Minuten. Mit Pausen währte das Konzert von neunzehn Uhr bis eine halbe Stunde nach Mitternacht: eine bewundernswerte Konzentrationsleistung der Musiker. Verwunderung erregte dagegen das Hamburger Publikum: Es hatte nicht nur die Vorverkaufskassen gestürmt – das Konzert war absolut ausverkauft –, sondern harrte auch die fünfeinhalb Stunden mit bemerkenswerter Konzentration und Neugier aus. Nun ist schon seit einiger Zeit zu beobachten, dass die Musik der Gegenwart, zu der immerhin ein ganzes, nunmehr zumindest in der Zahlenoptik, vergangenes Jahrhundert zählt, zunehmend auch bei einem breiteren Publikum auf wachsendes Interesse stößt, nicht allein an den zentralen Stätten der Avantgarde, in Donaueschingen, Witten, Darmstadt oder bei der Musica in Straßburg, sondern auch an weniger vorgeprägten Stätten. Entscheidend ist dabei oft der persönliche Einsatz Einzelner. Deren Energie und Kreativität können auch das schwierigste Programm an ein interessiertes Publikum vermitteln. Auch spezielle Formen eines Festivals für neue Musik befördern deren Anliegen, wie der Dauererfolg von „Wien modern“ beweist. Und die Hamburger Neue-Musik-Szene, sehr lange Zeit hindurch eher unscheinbar vor sich hindämmernd, scheint sich spürbar zu beleben. Nicht zuletzt der große Erfolg von Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Staatsoper besaß die Wirkung einer Initialzündung.

Der Begriff der „Horizonte“, den Eschenbach für sein Programm wählte, lässt sich doppeldeutig fassen. Der Blick zum Horizont gilt nicht nur der Zukunft, sondern, gleichsam im Rücken des Betrachters, auch der zurückliegenden Zeit. Auch die Musik bewegt sich in einem geschichtlichen Kontinuum. Der Musikhörer scheint das immer stärker zu spüren, er setzt sich mit dem „Neuen“ auseinander, begreift, was die Komponisten schreiben, als Historisch-Gewachsenes, das sowohl nach vorn wirkt als auch auf das Zurückliegende verweist, auf die Herkunft, auf Entwicklungen, die jetzt, in der Distanz, plastischer und gleichsam logischer hervortreten.

Wolfgang Rihm, mit seinem Orchesterstück „Spiegel und Fluss“ beziehungsvoll am Ende platziert, scheint diese Ausgespanntheit zwischen Zeit und Raum sensibel zu erspüren. Das leise Pochen des Woodblocks, das das Werk wie ein Kontinuum durchzieht, korrespondiert mit zwei meist in einfachen Intervallen geführten Ferntrompeten. Mahlers Trompeten klingen wie von fern herüber, aber Rihms Klänge erinnern auch an die leisen Einwürfe in Charles Ives‘ „Unanswered Question“. Auch Rihm beantwortet keine Fragen nach dem, was kommen könnte, aber in seiner hochexpressiven, innerlich verhaltenen und dann wieder ins Aufschreiende ausbrechenden Musik liegt zugleich ein Verweis auf eine große musikalische Vergangenheit, deren fortwirkende Energien er mit diesem Stück auch für die Zukunft reklamiert.

Wie stark die Vergangenheit auch in der Zukunft uns bedrängen wird, dafür zeugten die Kompositionen von Peter Ruzicka und Aribert Reimann. Ruzic- kas „Recherche(-im Innersten)“ empfing ebenso wie Reimanns „Kumi ori“ (das hebräische Jesaja-Wort, das soviel bedeutet wie „Steh auf und leuchte“) entscheidende Anregung von der Lyrik Paul Celans. Ruzickas Suche nach dem „Innersten“ von Celans Sprache, die sich in einer entstehenden Celan-Oper abbilden wird, führt hier zu einer äußersten Reduktion von Sprache. Mehrfach ertönt aus dem Chor, der das musikalische Geschehen mit Vokalisieren quasi instrumental komplettiert, das einzige Wort „Jerusalem“, als Beschwörung und als Schrei. Für Celan besaß das Wort eine tiefe, magische Bedeutung, es markiert die Möglichkeit einer spirituellen Existenz, die über Zeiten und Ereignisse hinausgreift. Ruzickas „Recherche“ führt Celans schmerzliche Reflexionen als Klangrede weiter, die Zeiten, die bedrängende Vergangenheit, die vage Zukunftshoffnung, mit einer expressiven, oft gewaltsam ausbrechenden Musik überwölbend, sehr präzis und konturiert im musikalischen Ausdruck, der oft eine schmerzhafte Härte erreicht.

Reimann dagegen benutzt ausführlichere Celan-Texte, dazu Zeilen aus den Psalmen, die vom Bariton Yaron Windmüller auf deutsch und hebräisch gesungen werden. Die Gegenwärtigkeit dieser Texte ist fast erschreckend. Reimanns Musik durchdringt sie mit schmerzlichem, klagendem Laut, der sich am Ende ins Hoffnungsfrohe wendet, ins Helle und Leuchtende, nicht als Triumph, vielmehr als banges Fragen, als vorsichtig formulierte Utopie.

Der Komponist Bright Sheng (geb. 1955) reagiert mit seiner „Threnody for Orchestra and Pipa“ auf das Massaker, das japanische Soldaten 1937 in Nanking verübten, wo sie hunderttausende Chinesen niedermetzelten. Shens „Nan-king! Nanking!“ – so der Titel des Stücks – formuliert keinen Klagegesang, sondern einen geharnischten Protest wider das Vergessen. An martialischer Härte ist „Nanking! Nanking!“ kaum zu überbieten, doch mildert der zarte Klang einer Pipa (gespielt von Wu Man) die brutale Überwältigung durch das Humanum sanfterer Klänge.

Während die „Evening Songs“ von Turnage und das „Concert de Gaudi“ von Rouse (inspiriert von der Architektur des katalanischen Architekten) in ihrer leicht fasslichen Musizierhaltung in diesem Rahmen fast ein wenig marginal wirkten, schritt Matthias Pintscher mit seinem „Sur Depart“ für drei Orchestergruppen, drei im Raum verteilte Celli und Frauenstimmen (Texte von Rimbaud) am konsequentesten in die musikalische Zukunft: Das Orchester spielt nicht länger nur notierte Stücke, sondern wird selbst zum „Stück“, fungiert als autonomer „Klangkörper“, der seinen eigenen Ausdruck entwickelt. Dass der Komponist dabei nicht gänzlich zu verschwinden braucht, demonstriert Pintscher: Seine kompositorische Sensibilität ist in jedem Klangaugenblick zu spüren.

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