Inwieweit Musik die Kraft hat, sich der Barbarei zu stellen, ist eine alte Frage. Bisher galt dazu die Übereinkunft: Menschheitsverbrechen wie die Vernichtung des europäischen Judentums sind nicht kunstfähig. Wenn es dafür überhaupt eine Musikgestalt geben könne, sei diese durch das Schönberg-Oratorium „Ein Überlebender aus Warschau“ markiert. Weiter, so glaubte man, könne man nicht gehen. Empathie mit den Opfern, das „Eingedenken“ (Walter Benjamin), erzwingen Reduktion der Mittel, Verfremdung, Abstraktion. Nachdem das Theater Krefeld/Mönchengladbach zur Spielzeiteröffnung die Stefan Heucke-Oper „Das Frauenorchester von Auschwitz“ uraufgeführt hat, scheint dieser Konsens aufgekündigt.
Vorspiel 1: Soviel Aufmerksamkeit war selten. Da wurde in tagelangen medialen Vorkommentaren, Hintergrundberichten und Expertenbefragungen ein Theater-Ereignis hochgekocht, das, als es serviert ward, die hochgesteckten Erwartungen weithin unbefriedigt ließ. Immerhin: Der ersten Auschwitz-Oper der Musikgeschichte war es gelungen, in einer großen rheinischen Tageszeitung sogar die Themen Papst und Gammelfleisch kurzzeitig von Seite eins zu verdrängen. Ein Tabubruch, der dank musik- und theatersprachlicher Konfektionsware nicht als solcher gefühlt wurde. Als Tabubrecher fungierte der Bochumer Komponist Stefan Heucke, der allerdings von absichtlich herbeigeführten Regelverletzungen nichts wissen wollte. Die Komposition dieses Stoffs sei ihm, so brachte er es auf eine sympathisch-jungenhafte Weise auf den Punkt, zur Herzensangelegenheit geworden, seitdem er das Erinnerungsbuch von Fania Fénelon 1980 zum ersten Mal gelesen habe. Die instinktive Scheu, die einen vor Grenzverletzungen zurückschrecken lässt, wie es eine Veroperung des Grauens nun einmal darstellt, kennt Stefan Heucke nicht. Das posttraumatische Erschrecken, dem Adorno stellvertretend für mehr als eine Generation Ausdruck verliehen hatte, indem er der Kunst schlichtweg bestritt, der Nazi-Perversion gerecht werden, in der Kunstform fassen zu können, was kein Kopf fassen kann – solcherart Skrupel und Zweifel sind Stefan Heucke fremd.
Vorspiel 2: Eine zweite Chance, sein Projekt zu überdenken, trat dem sendungsbewussten Komponisten in Gestalt der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch entgegen. Die-se hatte dem Komponisten brieflich von massiven Bedenken unterrichtet, die sie und andere Davongekommene hegten. „Ihr Libretto, da es auf dem Buch von Fania basiert, hat keinerlei Chancen, auch nur annähernd der Realität zu entsprechen. Die Geschichte ist so komplex, dass jeder Versuch der Wiedergabe in begrenzter Form, wie es eine Oper ist, unbedingt scheitern muss.“ Dass Heucke über diesen Wink mit dem Zaunpfahl, wie er sagt, erschüttert gewesen sei, ist ihm abzunehmen. Doch auch in diesem Stadium seiner Arbeit wollte er nicht von der Vorstellung lassen, das Unmögliche möglich zu machen. Indem er das Gespräch mit der Cellistin des Auschwitz-Birkenau-Orchesters such-te, hoffte er, deren Autorität für seine Zwecke funktionabel zu machen, die gröbsten Schnitzer, vor allem die unglückliche Charakterisierung der Dirigentin Alma Rosé zu korrigieren, um schließlich mit entwaffnender Offenherzigkeit den Mahn-Brief der Überlebenden zum Prolog der Oper zu erklären. Ursprünglich dachte Heucke dabei an eine Schauspielerin, die Anita Lasker-Wallfisch mimt, wie sie an ihn schreibt. Solches Ansinnen hat Regisseur Jens Pesel verworfen, um stattdessen das Schreiben auf den Theatervorhang zu projizieren. So werden – im Namen der Opfer – die Opfer instrumentalisiert. Ein Vorwurf, dem sich über den Komponisten hinaus allerdings auch die Regie und Teile der Berichterstattung stellen müssen. Und dabei woll(t)en alle nur das Beste!
Durchführung: Bevor sich der Vorhang zum grausamen Spiel hebt, projiziert Pesel ein nachdenklich stimmendes Wort des jüdischen Propheten Joel auf den verhängten Bühnenkasten. „Älteste“, „Kinder“ und „Nachkommen“ der Kinder stehen unter der Pflicht, das Erlebte zu erzählen, das Erzählte zu erinnern. So beginnt Oper als pädagogisches Projekt. Nach der Pause, einen halben Massenmord weiter (wovon sich der eine oder andere Premierenbesucher erst einmal an der Theaterbar stärken muss), konfrontiert uns die Regie mit dem Wort des death-camp-Überlebenden Imre Kertesz, wonach es „keine Absurdität gibt, die man nicht natürlich leben würde“. Wie wahr! Nur, dass solches Dichter-Wort unfreiwillig den Inszenierungs-Nagel des Mönchengladbacher Intendanten auf den Kopf trifft: Auschwitz im Stadttheater.
Der latenten Verstocktheit des Komponisten korrespondiert der unbeirrbare Glaube der Regie, kraft bewährter Theatermittel, selbst einem nicht-fiktiven Extremstoff mit theatralischen Mitteln sein informativ-aufklärerisches Potenzial abringen zu können. Und tatsächlich liegt der ganzen Produktion unbestreitbar eine bemerkenswerte Willensanstrengung zu Grunde. Spürbar der Versuch, das Bühnengeschehen suggestiv aufzuladen, um es gleichzeitig durch Klarheit der Symbolsprachen zu brechen. Eine Rampe, über die die Todgeweihten fortwährend herüberziehen müssen, teilt das große Orchester auf der Hinterbühne vom Frauenorchester vorne, das mit Ausnahme der Konzertmeisterin überwiegend mit Laien besetzt ist. Rechts steigt in einer Plastiksäule gelber Dampf auf – Anspielung aufs Gas der NS-Todeslager wie auf deren brennende Krematorien. Links schaufelt ein Fließband fortwährend Kleider in den Bühnenraum: Schornstein, Rampe, Fließband, immer wieder neue Transporte, neue Selektionen, das Stöckchen des Dr. Mengele, dazu die Klänge der Mädchen-Kapelle, Suppés „Leichte Kavallerie“ etwa. Das suggestive Arsenal ist beeindruckend – und reicht doch nicht für die Wegstrecke von drei Stunden. Zu hoch die Verschleißgeschwindigkeit. Entlockt uns das Fließband im ersten Moment noch ein wiedererkennendes „Aha“, so haben wir uns im nächsten Moment bereits daran gewöhnt, bis wir es erst übersehen und dann vergessen. So kämpft Pesel verbissen gegen den schleichenden Bedeutungsverlust seiner Mittel, um sich am Ende unweigerlich von jenem Geschehen entfernt zu haben, das er uns nahe bringen wollte. Dazu kommt, dass dieser Inszenierung auch in der Musik kein wirklicher Bündnispartner erwächst. Heucke füttert das Hinterbühnenorchester, das das irrwitzige Geschehen vorn zu illustrieren und zu kommentieren hat mit hysterischen Klängen, die jeder Filmmusik zum Thema Ehre machten: Schrill die Posaunen-Glissandi, schreiend die Trompeten, röchelnd die Hörner und im Schlagzeug zuckt und klappert und knallt es nur so daher. Alles funktional im Erwartungshorizont. Nur als die Sängerinnen in der Todesfabrik fürs SS-Unterhaltungsbedürfnis Puccinis Butterfly intonieren (hervorragend: Kerstin Brix als Fania Fénelon, Isabella Razawi als Berthe) wird für einen Moment berührend wahr, was die aus London angereiste Anita Lasker-Wallfisch noch im Vorfeld der Uraufführung so umschrieben hatte: Musik ist unantastbar. – Doch dann ist das Lied zu Ende und alle, alle müssen weiter machen, was sie so machen: Die SS muss selektieren, Alma Rosé instrumentieren und dirigieren (was Anne Gjevang, im Unterschied zu ihrem Gesang, nicht kann) und Jens Pesel muss weiter inszenieren – bis nach drei Stunden das Lager-Theater durch die Alliierten befreit wird und lokalpatriotischer Premierenjubel der Erschöpfung Platz macht. Soviel Anstrengung, soviel Einsatz von Mensch und Material (allein der Kleiderberg) muss belohnt werden. Dass das Schauspiel mit dem „Frauenorchester von Auschwitz“ an seine Grenzen geraten ist, scheint Pesel gespürt zu haben, weswegen er eifrig Spruch- und Mahnwörter einsetzt. Und wenn er ein Transparent hängt, auf dem „Zyklon B“ zu lesen steht, ist es, als wolle er sagen: Es ist zwar alles Theater, was wir hier machen, aber doch wirklich. – Auschwitz im Stadttheater. Ein Paradoxon.
Nachlese: Verstörend nicht das Kunstereignis, eher schon die Ereignisse drumherum. Dazu zählt nicht zuletzt eine gestanzte Kommentierung, die für einen blassen Theaterabend, für ein quälendes Betroffenheitsspektakel seltsam unempfänglich blieb. Den Vogel abgeschossen, hatte in diesem Fall das tagesthemen-Team, das im Bericht zur Uraufführung (während dieselbe noch lief) unbeirrt Abgestandenes weiterreichte. Dass Anita Lasker-Wallfisch vor sämtlichen laufenden Kameras und offenen Mikrophonen, die sich ihr boten, den gröbsten Unsinn hatte gerade rücken wollen, erwies sich als vergebliche Liebesmüh. Von einem „Missbrauch der Musik“ (eine der meistgebrauchten Versatzstücke in diesem Zusammenhang) könne, so Lasker-Wallfisch, keine Rede sein. Oder hätte sie, so die spätere Mitbegründerin des English Chamber Orchestra mit dem ihr eigenen Sarkasmus, bei der Ankunft im Lager pikiert ihr Cello weiterreichen und stattdessen ins Gas gehen sollen?! – Unter den zahlreichen, an diesem schwülen Premierenabend gesprochenen, projizierten und sonstwie artikulierten Mahnworten war dieser Hinweis tatsächlich einer, mit dem man etwas hätte anfangen können. Doch wozu? Namentlich bei den Bildberichterstattern ging‘s zum einen Ohr rein, zum anderen hinaus, wusste man doch längst, was hier zu sagen war! So flimmerte die volkspädagogisch wertvolle tagesthemen-Botschaft noch am selben Abend über die Mattscheiben der Republik, wonach uns in dieser Oper ein Kunstereignis begegnet sei, das „unter die Haut geht“.