Das Luzerner Traditionsfestival hat sich in den letzten fünf Jahren zu einem bedeutenden Zentrum der neuen Musik entwickelt. Festivaldirektor Michael Haefliger und sein Dramaturg Mark Sattler zeigen einen Mut und eine Phantasie, die es an vergleichbaren Orten zur Zeit nicht gibt, die aber auch durch eine respektable Liste von Sponsoren und privaten Mäzenen abgesichert sind. Die Veranstaltungen mit Zeitgenössischem sind eingebettet in die herkömmlichen Konzerte mit internationalen Sinfonieorchestern und Solisten. Kristallisationskerne sind dabei die von Pierre Boulez geleitete Festival Academy, die nun schon in ihr zweites Jahr geht, und der Composer-in-Residence.
Der hieß diesmal Helmut Lachenmann, wie an so manch anderem Ort auch – zu seinem 70. Geburtstag ist er bevorzugtes Objekt der Veranstalterbegierde. In Luzern war er einen Monat lang auf vielseitige Weise präsent, sozusagen ein Komponist zum Anfassen. Er leitete zusammen mit Walter Levin einen Streichquartett-Workshop, er unterrichtete an der Luzerner Musikhochschule, er stand in öffentlichen Diskussionen Rede und Antwort. Doch vor allem war seine Musik zu hören. Nicht weniger als acht Werke standen von ihm im Programm, die von den Luzerner Studenten einstudierten kleineren Stücke nicht mitgerechnet. Das Arditti Quartett interpretierte sein erstes und drittes Streichquartett, wobei das dritte, „Grido“, auch in einer Bearbeitung für 48 Streicher unter dem Titel „Double“ erklang, gespielt vom Ensemble der Festival Academy unter Matthias Hermann. Das Ensemble Intercontemporain spielte das nunmehr über 20 Jahre alte Schlachtross „Mouvement (- vor der Erstarrung)“; Dirigent war Heinz Holliger, dem es schon seit Jahren gelingt, das Stück aus der Ecke der kritischen Geräuschproduktion herauszuholen und die musikantischen Seiten daran zu betonen. Ein Großprojekt mit dem Ensemble Modern Orchestra, das auf eine Idee Lachenmanns zurückging, sollte seinen „Ausklang“ für Klavier und Orchester mit der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss konfrontieren. Doch das Konzert fiel dem Hochwasser zum Opfer, und die über hundert Musiker mussten unverrichteter Dinge wieder abreisen.
Hauptereignis des Lachenmann-Schwerpunkts war die Uraufführung des neuen Ensemblewerks „Concertini“ mit dem Ensemble Modern unter dem Dirigenten Brad Lubman. Der Titel „Concertini“ erinnert an die ursprüngliche Bedeutung des Worts „Konzertieren“ im Sinne von Wettstreit in kleinen Gruppen. Das Stück ist mit 25 Spielern groß besetzt, die ausladenden Gruppensoli sind mit dem Ensemblesatz dicht verwoben und erfordern viel kollektive Virtuosität. Auf höchst erfinderische Weise werden die Instrumente zu Zupfkonzert, Streicherconsort und zum Scherzo einer Schabe- und Schrappaktion gebündelt, nicht weniger als vier Oboen vereinigen sich zum durchdringenden Unisono, gegen Schluss simulieren einige Bläser den Klang der japanischen Mundorgel Shô.
Auffällig an Lachenmanns neuer Komposition ist der helle, leichte, stellenweise geradezu heitere Grundton, der immer wieder durchbricht. In den unerhört differenzierten Geräusch-Klang-Gemischen, die Lachenmann inzwischen mit Meisterhand zu modellieren versteht, hat sich das Mischverhältnis unmerklich in Richtung Klang verschoben. Stellenweise werden sie wie von innen heraus zum Leuchten gebracht. Die Frage der Schönheit, eine idée fixe bei Lachenmann, steht dabei in neuer Form wieder zur Debatte. Das Etikett des Geräuschmusikers, das dem Komponisten immer wieder angeklebt worden ist, gilt nach diesem Stück noch weniger als zuvor.