Jeder Regisseur, jede Regisseurin muss den Zuschauern anbieten, wer seiner/ihrer Meinung nach Carmen ist. Der Mythos Carmen, in der Vertonung von Georges Bizet die meistgespielte Oper der Welt, wurde Grundlage für Welten: die Welt der Männer, die nur zu gerne eine solche Frau betrachten, bzw. haben wollen, die Welt der feministischen Frauen, für die Carmen der Inbegriff autonomer Freiheit ist.
Für diese Extreme taugt Carmen genauso wie alles dazwischen, wobei am berühmtesten wohl die fragwürdigen Sichten von Carlos Saura und Peter Brook sind. Anna Sophie Mahler, eine der interessantesten Opernregisseurinnen der jüngsten Generation, machte nun in Bremen in einer viel bejubelten Premiere ein ganz anderes Fass auf: nicht primär Carmen gilt ihre Aufmerksamkeit, sondern Don José. Sie inszeniert die 1875 entstandene Oper als seinen Albtraum, seine Ängste, seine Visionen, seine Verdrängungen und seine Schuldgefühle. Carmen, die somit eine ebenso reale Figur wie eine Projektion ist, spielt ihm dabei übel mit: ihr ist nichts wichtiger, als seine korsetthafte Ordnungswelt – das Militär, seine Mutter, sein Dorf – aufzubrechen und zu zerstören. Ob Carmen José liebt, nicht liebt oder wie liebt, ist nicht die Frage dieser Inszenierung.
Das versteht man in Bremen nicht gleich, die Konzeption könnte im ersten Akt schärfere Akzente vertragen. Es gibt keine Fabrik, keine Kneipe Lilas Pastia, keinen Schmugglerwald und keine Stierkampfarena. Es dauert, bis die für alle vier Bilder zuständige hochbürgerliche Villa (Bühne Duri Bischoff) mit mehr oder weniger vornehmen zigarrerauchenden Herren, in der Carmen als Dienstmädchen arbeitet, sich als der zutiefst bedrohliche Raum für José entwickelt.
Die Villa wird mit ihrer breiten Treppe in den ersten Stock und ihrem Kellergeschoss das Bild für das Unterbewußtsein. So kommt einiges aus dem Off. Es ist zunächst merkwürdig spröde und unglaubhaft, dass Carmen sich mit einer Kollegin rauft, blutige Hände hat, aber ein gut sitzendes Häubchen behält und dann mit ihrer Habanera den sie festhaltenden Offizier José verführt. Aber dann nimmt die Inszenierung schlüssige Fahrt auf und der Albtraum des armen José ist nachvollziehbar, wir geraten in seine Welt.
Die Gegensätze zwischen Carmen und José türmen sich geradezu auf: sie lebt gnadenlos und tödlich für alle anderen in der Gegenwart und er in seiner dörflichen Vergangenheit und utopischen unwahren Zukunft, das kann nicht gutgehen. José liegt im Schlussbild verletzt und ohne jegliche Würde am Boden und stammelt das ansonsten selbstbewusst und bedrohliche „Ich bins“. Dann rafft er sich zum finalen Todesstoß auf, nicht ohne vorher von Carmen, die den Dolch hat und dann ihm gibt, selbst verletzt zu werden.
Bis dahin gibt es eine Vielzahl analytisch kluger und aufschlußreicher Bilder: wenn Carmen José zwingt, ihre Corsage anzuziehen – parallel dazu wechselt sie in die Toreroklamotten – , wenn das kindliche alter ego von José mit den Kleidern von Michaela einen Stierkampf markiert, wenn Carmen Michaelas Kleid überzieht, wenn Michaelas Gebet sich an das Kind José richtet, wenn Michaela und José ihre Kinderspielchen zelebrieren, wenn vor dem Stierkampf die Gesellschaft eine wirklich grausame Verhöhnung Josés vollzieht. Manchmal lässt Mahler ihre Bilder erstarren: der Albtraum, mit dem wir uns zunehmend identifizieren, ist perfekt.
Die Musik Bizets unter der energiegeladenen Leitung von Markus Poschner hat enormes Tempo, dichten Druck, die Musik glüht und ist so hitzig wie transparent von Anfang an. Friedrich Nietzsches antiwagnerianisches Diktum von der sonnendurchglühten Partitur, die „niemals schwitzt“, wurde von den Bremer Philharmonikern vom ersten bis zum letzten Ton mitreißend verwirklicht. Drei der SängerInnen verdienen eine Extranennung sowohl fürs Singen als auch fürs Spielen: Theresa Kronthalers Carmen, Luis Olivares Sandovals José und Erika Roos' Michaela.
Regie und musikalische Interpretation zusammen machen diese Carmen-Version zu einer denkanstoßenden, sinnlich bewegenden und damit zu einer herausragenden im Panorama der zahllosen Carmen-Aufführungen.