Komposition gilt unter Kirchenmusikern im Prinzip als abgeschlossen. Was man braucht, liegt vor. Mehrheitlich in guter bis sehr guter Qualität, weswegen es für Kantoren, für Organisten überhaupt keine Schwierigkeit darstellt, ihr Berufsleben zu organisieren, ohne selber je eine einzige Note schreiben zu müssen. Es besteht keine Notwendigkeit dazu. Was musikalisch zu tun ist im Kirchenjahr, ist mach- und lieferbar aus dem Bestand. Wozu also Neues in die Welt setzen? Soll ich mich blamieren? Soll ich dilettieren? – Soweit, sehr holzschnittartig, die Konturen einer Haltung, mit der die Kirchenmusik, man möchte sagen: mehr oder weniger achselzuckend zu Protokoll gegeben hat, dass sie Nähe zu gegenwärtigem Komponieren als überflüssig betrachtet – seit langem schon. Weswegen die Ausnahmen denn auch ins Auge fallen. Wolfgang Abendroth zum Beispiel.
Schrittweise hat sich der Kantor und Organist an der Johanneskirche Düsseldorf von einem bloß reproduzierenden zu einem auch-komponierenden Kirchenmusiker entwickelt. Als Dozent für Orgelimprovisation an der Hochschule für Musik und Tanz Köln ist sie natürlich von vornherein da, die Affinität zur kreativen Sphäre. Andererseits – von der Improvisation zur Komposition ist ja noch einmal ein Sprung zu machen, zu wagen. Man muss abheben wollen. Wolfgang Abendroth hatte diesen Mut. Und er wurde belohnt. Sein abendfüllendes Stück Musiktheater löste in drei ausverkauften Vorstellungen frenetischen Jubel aus. Der komponierende, selber auch dirigierende Kantor gehört zu denjenigen Musikern, die, wenn sie über ihr Musikschreiben sprechen, keine Lehrautoritäten zitieren, Traditionen bemühen, Vorbilder aufrufen, vor denen postwendend in die Knie zu gehen ja keine kleine Gefahr darstellt. Wolfgang Abendroth beruft sich auf anderes, auf das, was in ihm vorgeht.
„Es ist meine Musik, es ist, was ich fühle.“
Damit geht er an den Start. Und damit stellt er von vornherein sicher, dass sich nichts nachgemacht anhört, was er zu Papier bringt, auch wenn darin natürlich jede Menge Traditionen einfließen – geht ja auch gar nicht anders. Beethoven-Affekte, Mendelssohn-Felder, Strawinsky-Allusionen, Bernstein-Rhythmen, Choralzitate – diese Sachen. Nur eben, nach „neuer Musik“ klang es nicht, was Abendroth seinen Chören, seinem Orchester, seinen Solisten ans Herz gelegt hatte. Mag sein, dass im Premierenjubel auch die Erleichterung darüber mitschwang, dass dieser Kelch glücklich an einem vorübergegangen war.
Mit diesem Vertrauen, diesem Ich-fühle-es-so hat Wolfgang Abendroth jetzt auch die jüngste, nicht wenig ambitionierte Stadtkirchen-Produktion gestemmt. Ein spezifisches städtisches Kunstmilieu ist ihm dabei sehr entgegengekommen, genauer: es hat ihn überhaupt ins Ziel getragen. Dank der räumlichen wie personellen Nähe zum „düsseldorf festival“, dem vormaligen „Altstadtherbst“, dank der langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Christiane Oxenfort, die als Flötistin selber im Düsseldorf Festival Orchester mitspielte – dank dieser Produktionsumgebung konnte aus der Idee Realität werden: zum Beethovenjahr eine große Musiktheaterproduktion auf die Beine zu stellen, die das Künstlerschicksal und die Künstlerantwort auf dieses Schicksal zum Thema hat. Wir wissen: Noch keine dreißig Jahre alt, machte sich bei Ludwig van Beethoven ein Gehörleiden bemerkbar, das binnen kurzem zur völligen Taubheit führte. Im sogenannten „Heiligenstädter Testament“, ein nie abgeschickter Briefentwurf an seine Brüder, hat er darüber erschütternd Zeugnis abgelegt. Seine misanthropische Außenhaut, teilt er uns darin mit, ist bloßer Schein. Der vermeintliche Einzelgänger will alles sein nur kein Einzelgänger – und muss es doch sein. Der flehentliche Ausruf, der die Richtigstellung einleitet, hat Abendroths großer Chor- und Orchesterkomposition ihren Titel gegeben: „O ihr Menschen!“ Unvermittelt sprang uns das Stück damit an. Christian Sturm klagte mit silbriger Tenorstimme. Sicher, das O- und das Menschen-Pathos ist uns fremd geworden. Was wir aber immer noch spüren, ist die Bitternis, die dahinter steht. Eine, von der sich auch der Komponist hat anrühren lassen, wenn er einen Pianissimo-Abstieg H - B - A über Rückungen, Pausen in das verstummende Selbstbekenntnis führt:
„Ich bin taub.“
Mit großem Tenorsolo anzufangen, auf jeden Ouvertüren-Konventionston zu verzichten, war sowieso stark, sorgte für Grundtempo und Grundspannung in einem an Binnenspannung eigentlich armen Stück. Nicht die Figuren trieben es, strukturierten es, sondern wie wir diese ansahen, in diesem Fall, wie sie Maria Hartmann angesehen hat. Vom Heiligenstädter Beethoven ausgehend, hatte sie ihr Libretto um weitere Dunkel-Hell-Figuren gruppiert: Helen Keller, James Graf von Moltke, Nelson Mandela. Große Dulder, große Bekenner, große Schicksal-Bezwinger. Der auch als Erzählerin auftretenden, unermüdlich um unsere Informiertheit besorgten Maria Hartmann kam es genau darauf an: das im Kirchraum in Szene gegangene Musiktheater mit einer geballten, wild kompilierten Ladung Hoffnungslyrik anzureichern, was die Regie (Nicola Glück) ihrerseits zu einem minutenlangen finalen In-den-Armen-liegen verführte. Dass die Worte dazu im Zusammenwirken von Solisten, geteiltem Kinder- und Jugendchor, Kantorei, Orchester weitgehend textunverständlich blieben, war freilich unerheblich. Einmal mehr empfahl sich in Düsseldorf das Medium als Message. Das war es, was zählte, was rüberkam: Nicht aufhören, zu singen, immer weiter musizieren. Egal, was passiert. Nicht das Ende besingen – über das Ende hinaussingen.