Auf Nummer sicher ging das Staatstheater Nürnberg mit der Uraufführung der Oper „Turing“ von Anno Schreier und Georg Holzer. Und landete prompt einen Publikumserfolg. Die Haare in der Suppe suchte und fand Juan Martin Koch:
Spätestens seit dem Film „The Imitation Game“ von 2014 ist die gleichermaßen faszinierende wie tragische Lebensgeschichte des englischen Mathematikers Alan Turing gut bekannt. Man weiß, dass er im Zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Entschlüsselung der mit der „Enigma“-Maschine kryptographierten Funksprüche der Wehrmacht beteiligt war und aufgrund seiner Homosexualität zunächst angeklagt, dann „behandelt“ und schließlich 1954 in den Suizid getrieben wurde.
Anno Schreier und sein Librettist Georg Holzer haben Turings Biografie für ihre Oper in gut konsumierbare szenische Häppchen gegliedert. Eine aktuelle Perspektive soll die Einbeziehung der Figur der „Madame KI“ eröffnen. In der Aussicht, dass nicht nur seine Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Computerentwicklung, sondern sein Denken insgesamt in zukünftigen Künstlichen Intelligenzen weiterleben wird, haucht er in den Armen der Madame KI herumalbernd recht munter sein Leben aus.
Nicht nur hier versuchen Schreier und Holzer dem Stoff mit einem etwas merkwürdigen Augenzwinkern die Schwere zu nehmen. Da wird beherzt gereimt, der Chor beschwört launig die Faszination von Nullen und Einsen, der Pragmatismus der zur Wahrung eines „normalen“ Anscheins bitter notwendigen Zweckbeziehung mit der Kollegin Joan wird in lapidaren Dialogen ironisiert. Entsprechend bemüht wirkt dann der auf der anderen Seite offenbar durchaus angestrebte Tiefgang, für den Kipling- und Wilde-Zitate herhalten müssen.
Eine nette erfundene Pointe ist immerhin, dass eine Entschlüsselung dem Komponisten Benjamin Britten das Leben rettet, womit wir bei Anno Schreiers Musik wären. Auf Britten nimmt er nur an wenigen Stellen harmonisch Bezug, die Titelpartie aber – zumal in der herausragend textverständlichen, im Timbre durchaus mit den großen englischen Sängern vergleichbaren Interpretation des wunderbaren Martin Platz – ist klar von den auf seinen Lebensgefährten Peter Pears zugeschnittenen Tenorrollen Brittens inspiriert.
Ansonsten bedient sich Schreier, vor allem in den als „Turingmaschinen“ bezeichneten Zwischenspielen, unverblümt bei Steve Reich, ohne jemals dessen dreidimensionales Pulsieren zu erreichen. Diese minimalistischen Passagen werden dann häufig nach Art eines John Adams orchestral weiter aufgebauscht, um schließlich in stereotype Pseudo-Jazzrock-Rhythmen zu münden. Was die Vokallinien betrifft, so lehnt sich Schreier gerne auch bei Leonard Bernstein an. In der Szene, als Turing seine Jugendliebe verliert, gibt es Augenblicke, die kurz davor sind, ins Musicalhafte umzukippen.
Das wäre vielleicht ohnehin der konsequentere stilistische Zugriff gewesen, schließlich erreicht die psychologische Tiefenbohrung des Stücks – „Ich bin eine Insel“ darf Turing immer wieder von sich preisgeben – nicht einmal mittleres Netflix-Serienniveau. Von einer vertonten Graphic Novel könnte man sprechen, täte man damit nicht den vielen herausragenden Publikationen in diesem Genre Unrecht an.
Passend ist der Vergleich aber wohl in Bezug auf die Bildsprache von Jens-Daniel Herzogs routiniert werkdienlicher Inszenierung. Das Bühnenbild von Mathis Neidhardt suggeriert mit omnipräsenten Umrissen, wir sähen in Turings Kopf hinein, was leider Behauptung bleibt. Bühnenwirksam rollt die „Turing-Bombe“, die Dechriffier-Maschine aus Bletchley Park, herein. Bei der bitteren Entscheidung, ein Schiff opfern zu müssen, um nicht aufzufliegen, blinken die Lämpchen ein hilfloses „SOS“. Ein Auftritt des Zigarre rauchenden Winston Churchill (Nicolai Karnolsky) darf ebenso wenig fehlen wie ein perückenbewehrtes Tribunal, das Turing im Stile einer Bach’schen Passion ob seiner Homosexualität schuldig spricht. (Auch einen entsprechenden Choral nach Turings Tod lässt Schreier sich natürlich nicht entgehen.)
Die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Guido Johannes Rumstadt verströmte ob der weitgehend aus Stilkopien zusammengesetzten Partitur wenig Enthusiasmus, immerhin nahm im Lauf des Abends die rhythmische Prägnanz ein wenig zu, was auch für den von Tarmo Vaask einstudierten Chor gilt. Neben Martin Platz’ überragender Leistung behaupteten sich vor allem Andromahi Raptis als Madame KI und Emily Newton als Joan. Mykhailo Kushlyk verlieh dem Kurzauftritt von Turings verhängnisvollem Liebhaber Arnold Murray einige Prägnanz.
Dem großen Schlussjubel nach zu urteilen – da mag der enttäuschte Kritiker noch so mäkeln – treffen derlei niederschwellige Opern-Biopics offenbar einen Publikums-Nerv. Na dann.