Der Premieren-Zuspruch am 12. August bewegte sich fast nur zwischen „gelangweilt“ und „vernichtend“. Dabei ist Giuseppe Verdis letzte Oper und Commedia lirica „Falstaff“ in schöner Regelmäßigkeit bei den Salzburger Festspielen präsent, erlebte aber Wiederaufnahmen nur in Herbert von Karajans zweiter Produktion 1981/82 und in den Jahren 1935 bis 1938. Sonst verschwanden sogar die glückhaften Salzburger „Falstaff“-Inszenierungen sofort nach ihrem einzigen Festspieljahr (2013, 2001, 1993). Demzufolge ist Verdis ambitionierte und eigenwillige Shakespeare-Adaption kein Salzburger Zugstück wie „Aida“ oder „Don Carlo“. Ging wirklich so viel schief wie angeprangert? – Eine Beobachtung zur zweiten Vorstellung am 16. August.
Nur eine Salzburger Farce? - Der nackte („Falstaff"-) Wahnsinn
Es war eine Applaus-Karikatur: Die russische Sopranistin Elena Stikhina versuchte den Schlussbeifall mit Kniefall und ausgebreiteten Armen zu befeuern. Aber im Vergleich zu anderen Abenden im Großen Festspielhaus reichte es nur für ein Mezzoforte-Händeklatschen mit desto einsamerem Bravoruf. Desgleichen applausreduziert gingen ihre Kolleg*innen aus. Das war nach der zweiten Vorstellung dieser „Falstaff“-Inszenierung trister als bei anderen Reprisen von verrissenen Salzburger Musiktheater-Produktionen. Sonst gibt sich das Publikum dort mit kräftigen Energieschüben große Mühe, Rezensionen abzustrafen. Denn Teures muss in direkter Proportionalität auch gut sein, weil niemand gern fehlerhafte Produkte beim Edelerzeuger kauft.
Nach mehreren stimmungslähmenden Buhs zur Pause – ja auch davon unabhängig – kam in der laufenden Vorstellung keine rechte „Falstaff“-Stimmung auf. Weder packte die Musik wie Corretto mit Limoncello (so könnte es bei Verdis Doping zwischen Aufbruch in die Moderne und Belcanto-Reminiszenzen sein!) noch gab es Anlässe zum philosophischen Schmunzeln und hämischen Lachen. Beides separat geht in der 1893 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper, beides im Wechsel nicht ganz so häufig. Und ganz humorfrei wie hier bei Christoph Marthaler, der vor vielen Jahren für Schuberts „Die schöne Müllerin“ eine feine wie respektvolle Humorfarbe hatte, zischt „Falstaff“ selten ab.
Musikalisch fehlgeleitet – vorhersehbare Inszenierung
Sicher ein Fehler der Festspielleitung, wobei bereits die Meinungen über Herbert von Karajans zweiten Salzburger „Falstaff“ von 1981/82 nicht so gut wie zu seinem ersten von 1957 abschnitten. Damals hieß es, das Solisten-Ensemble sei nicht so exzellent wie früher, die szenische Lesart etwas angestaubt, die musikalische Leistung etwas zu glatt lackiert. Immerhin! – denn Karajan agierte in der Besetzung teils eigenwillig, teils wertaffin und elitebewusst. Im Salzburger Festspielsommer 2023 dagegen wurden zwei zusammengeworfen, deren Sache das sinnlich-geistreiche Verdi-Fluidum garantiert nicht ist. Ingo Metzmacher kann Frühmodernes supergut lichten und auffächern, aber Verdis Witz und Schmelz nicht zum Leuchten bringen. Also gelingt ihm das erste Bild des dritten Aktes am besten, in dem Gerald Finley die Endzeit- und erotische Katerstimmung des Sir John Falstaff kongenial herüberbringt. Sonst schlägt Metzmacher alles brav und kantig durch, so dass sogar die Wiener Philharmoniker im Frühnebel steckenbleiben und es keinen klaren Verdi-Himmel geben darf.
Bei Christoph Marthalers Gedankenräumen und Anna Viebrocks Raumideen ist der Überraschungslack ab. Schon als in München Aribert Reimanns „Lear“ nicht über ein langatmiges Abarbeiten von Menschen im Museum hinausging, wenige Monate später die Chance mit Lehárs „Giuditta“ (beides 2021) glorios verfloppt wurde, wollten Publikum und Publizist*innen nicht mehr einhellig an das Kluge in Marthalers und Viebrocks Gedankenuniversum glauben.
Auch in Salzburg hätten sich die meisten etwas mehr rampensäuische Ensemble-Chuzpe statt Orson-Welles-Assoziationen zu dessen Filmen „Chimes at Midnight“, „The Other Side of the Wind“ und „I Love Me When I’m Dead“ gewünscht. Dass alle Bühnenfiguren kleine Schräubchen in einem motorischen Film- oder Theaterset, also extrem absturz- und pannengefährdet sind, erlebt man in Michael Frayns Farce „Der nackte Wahnsinn“ weitaus knalliger. Beim Schauspiel verhindert allerdings keine Musik das goldrichtige Slapstick-Timing. Möglicherweise ist das Opernpublikum inzwischen im Zweifel an der Gültigkeit vom Konzept-Geschwalle über die Größe zeitloser Stoffe wie „Falstaff“ und „Macbeth“, wenn die Regie an deren Größe nicht mehr glaubt und das mentale Entertainment auf Umwegen über Film-Assoziationen erfolgt – bei „Falstaff“ nach Warlikowskis Verdi-“Macbeth“ in diesem Sommer bereits zum zweiten Mal.
Nicht nur ein fader Falstaff ...
In beiden Fällen fällt auf: Singdramatische Vulkane sind auf der Bühne derzeit nicht besonders gewollt. Dem kleinbürgerlichen Damen-Quartett stehen in „Falstaff“ spannungsreduzierte Nerds (Thomas Ebenstein als Cajus, Michael Colvin als Bardolfo, Jens Larsen als Pistola) gegenüber. Derweil stürzen sich Jung-Chrotist*innen in den Swimmingpool, bis es nicht mehr lustig ist. Glimpflich und freundlich endete der Abend für Giulia Semenzato als musterhaft gute Nannetta. Man muss aber nicht bis Anna Moffo und Lucia Aliberti zurückblicken: Eigentlich ist Semenzatos Partie am schönsten, wenn man hinter Sopran-Silberfaden und Elfenschweiß die zukünftige Belcanto-Diva ahnt. Hier nicht.
… sondern auch Zeugnis eines ungesunden Opernmarktes.
Es zeichnet Salzburg aus, dass sich dort im Musiktheater eine Kontinuität von Besetzungen auf Spitzenniveau fortsetzt. Im Idealfall bei „Falstaff“ hätte es zu einer Offensive durch Charme, Charakter und Chargen kommen müssen. Bei Bogdan Volkovs Fenton-Romanze und den kleinen Duetten verhinderte das zu laute Orchester Verdis filigrane Lyrik. Bei der voll passenden Mrs. Quickly von Tanja Ariane Baumgartner fehlte es an burlesker Verschwörungsgestik vom Dirigenten zur Sängerin. Simon Keenlyside wirkte als nicht lustiger Herr Ford szenisch und musikalisch gedrosselt. Der Chor stand herum. Insgesamt ist diese Produktion ein krasser Absturz etwa zum Rendezvous des abgehalfterten Schlagerstar mit der ‘desperate housewife’ Alice in Magdeburg bei Karen Stone und Barrie Koskys Sahneschnitten-Gerangel für Aix-en-Provence und die Komische Oper Berlin. Aber das ist nicht nur ein Problem der Salzburger Festspielleitung, sondern auch eines Kulturbetriebs, der eine Auswahl von Persönlichkeiten mit Überbeobachtung hypt, diese also in Top-Verpflichtungen kreativ ausbluten, in Routinen verfallen und dafür zur Stunde X ins Kreuzfeuer geraten. Mechanismen wiederholen sich: Seit von Karajans „Falstaff“ von 1981/82 hat sich wenig geändert, nur sind die Reaktionen sind jetzt weitaus drastischer.
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