„Das kann ich auch“, so eine Zuhörerin lautstark beim Festkonzert zum 45-jährigen Bestehen der Reihe „Neue Musik in Delmenhorst“: das mit jährlich einem Konzert wohl kleinste Festival in Deutschland. Die Zuhörerin bezog sich auf einen spitzen hohen Ton, der glissandoartig herunterstürzt. Aber das ist bei der Musik von Hans Joachim Hespos kein dilettantisches Kreischen, sondern ein äußerst präzise notierter Ton mit einem äußerst präzisen Ausdruck. In „Kaps“ bilden acht „disparate“ Sänger/-innen vollkommen individuelle Gestalten, die von einem „Gelegenheitsdirigenten“ mit Leuchtstab und Frack irgendwie zusammengehalten werden: eine schöne Parodie auf die Funktion des Dirigenten. Die Ironie über den Konzertbetrieb kommt in jeder Sekunde höchst amüsant rüber, gleichzeitig und darüber hinaus gibt es richtig schöne Musik mit aufregenden Klangflächen und emotionalen Ausbrüchen. Es scheint typisch Hespos, er hat dies in vielen Werken der letzten Jahre gezeigt, wie er sich über die jahrhundertealte Gesangstradition lustig macht und sie gleichzeitg achtet, wenn nicht gar verehrt. Entgegen der Zuhörerin sind die acht Partien rein gesangstechnisch von äußerstem Anspruch. „Nur Gesang geht weiter“ heißt es in einer seiner Partituren.
Es ist wohl kein Zufall, das „Kaps“ mit Abstand das beste Stück des 45. Abends war: Das war schon häufiger so in Delmenhorst. Hespos war 31 Jahre alt, als die erste „Neue Musik in Delmenhorst“ stattfand, vor 45 Jahren, heute kann er auf den Auftritt von 76 Solist/-innen und Ensembles zurückschauen und sich an 237 uraufgeführte Komponist/-innen erinnern. Dabei gibt es einen geheimen roten Faden: Hespos’ wichtigstes Interesse gilt den ganz jungen Interpret/-innen, denen, die zurecht so vieles anders machen wollen und denen an Musikhochschulen und der Realität des Konzertbetriebes häufig der Mut genommen wird. Und sein Interesse gilt ganz neuen kompositorischen Konzeptionen. Daraus entstand jene in Deutschland wohl einzigartige Konzertreihe, die jährlich zwar nicht unbedingt Massen, aber immerhin doch eine treue Gemeinde anzieht.
Angefangen hat es am 11.11.1969 und seitdem immer am 11.11. – „damit keiner sagen kann, er habe das Datum nicht gewusst“ (Hespos) –, gleich mit großem Anspruch: der Auftritt des ensembles „musica negativa“ unter der Leitung von Rainer Riehn mit Werken von Webern, Cage und Hespos. Immer waren und sind neben experimentellen Uraufführungen Schlüsselwerke der Neuen Musik zu hören wie Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und jetzt einige Soli for voice aus den „Songbooks“ (1957) von John Cage.
Das Konzert hinterließ mit dem Auftritt von „AuditivVokal Dresden“ gemischte Gefühle. Das achtköpfige, 2007 gegründete Ensemble verfügt zweifelsohne über fantastisch ausgebildete Sänger. Alle sind zeitgleich tätig in alter Musik, so dass auch von daher an der überragenden sängerischen Kompetenz kein Zweifel gehegt werden kann.
Problematisch war eher die Dramaturgie und Regie (Sylvia Freitag) eines solchen Konzertes, das leider zu viel wollte. Glanzvoll zunächst einmal das Entree, in dem die Sänger/-innen unter unbändigem Lachen – das nicht wenige ansteckte – das Publikum in den Saal geleitete: Es war ein Teil von Hespos’ „Lachkaps“. Auf der Bühne lag das Gemüse, das später in Carola Bauckholts „Nein allein“ und für ein Cage-Solo erforderlich war – wobei von Lauch die Rede war und Stangensellerie da lag. Künstlerische Freiheit? Und dann eine mitreißende und in ihrer Doppelbödigkeit überzeugende Uraufführung: Amir Shpilmans „Situation Object“ für drei Sängerinnen. Maria Meckel hat alle Ansätze für Cathy Berberians „Stripsody“, es fehlte aber Souveränität. Insgesamt wirkte die Programmmontage eher dünn. Das Licht im Saal war dunkel, man wusste ohnehin nicht, wo man gerade war. Cage wurde recht verkrampft aneinandergereiht; die Frauen waren eine ganze Klasse besser als die Männer.
Ein weiteres Neues an diesem Abend: Remi Nagano spielte ein Stück für Flöte von Jin Wook Jung, einem Bremer Kompositionsstudenten. Nette Teile drin, aber insgesamt eher ein Rauf und Runter der technischen Möglichkeiten der Flöte mit ihren unsäglich vielen Atemtechniken. Das Gute daran ist die kulturpolitische Perspektive: Immer soll als „Bremer Punkt“ das Stück eines Studenten der Hochschule für Künste Bremen innerhalb der Delmenhorster Konzerte uraufgeführt werden. Neue Musik muss und soll Nähe erlauben. Das garantiert Hespos seit 45 Jahren nicht nur in seinen ländlichen Aktivitäten, sondern auch in seinem Werk, mit dem er sich immer wieder auf Theodor W. Adorno bezieht: „Die Gestalt von allem Künstlerischen heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.“